Die Fußnoten zum Club der Idealisten

Liebe Leserinnen, liebe Leser,  

natürlich wäre es praktischer gewesen, wenn Sie die Quellenangaben und Lesetipps zum “Club der Idealisten” gleich im Anhang des Buchs hätten finden können. Nur neigt die Schreiberin dieser Zeilen, wie Sie sicher bereits feststellen konnten, zu einem gewissen Überschwang, vor allem dann, wenn es um Bücher geht. Außerdem frönt sie gern der edlen Kunst vergnüglicher Abschweifung, wie Querdenker und andere kluge Köpfe sie lieben. Sie wissen nämlich, dass ebendiese Technik nicht nur das eine oder andere erhellende Licht auf den Gegenstand der Betrachtung wirft, sondern dass sie die oftmals überraschendsten neuen Sichtweisen eröffnet, indem sie mit ihrem Spottlicht auch ein paar dunkle Ecken ausleuchtet, die man sich sonst eher selten näher beguckt.  


So sind aus den Anmerkungen unversehens noch einmal weit über hundert Seiten geworden. Sie hätten, soviel steht fest, das Buch in einen Ziegelstein verwandelt  - und wer will schon einen Ziegelstein mit sich herumschleppen?  Jeder von uns ist, weiß Gott, schon mit mehr Gepäck unterwegs, als dass es sich noch unbeschwert leben ließe.       


Zu dem federleichten Buchkonzept, das meinem Verleger und mir vorschwebte, hätte ein derartig umfangreiches Buch jedenfalls gar nicht gepasst. Wir fanden, dass der “Club der Idealisten” noch bequem in einer Mantel- oder Jackentasche Platz haben sollte, auf dass man überall, sogar noch auf dem Bahnsteig, beim Friseur, beim Zahnarzt oder an der Supermarktkasse mal eben schnell ein paar Seiten darin lesen kann. 

Wenn die vielen Anmerkungen zum “Club der Idealisten”  zurzeit nur in digitaler Form nachzulesen sind, sieht das also nach einer Notlösung aus. Aber sie hat auch ein paar nicht zu unterschätzende Vorteile.  Erstens kann man nämlich die eine oder andere Passage auch schnell mal an Freunde weiterschicken oder an Menschen, von denen wir wissen, dass sie sich ebenso den Kopf über die Zukunft des Globus zerbrechen wie wir. Und zweitens lassen sich die Texte in diesem Dokument auch ausdrucken und unters Kopfkissen legen, wo sie eine wohltätige,  schlaffördernde Wirkung entfalten. Man kann überdies Postkarten  oder Lesezeichen daraus machen, von mir aus auch Lampenschirme und Fröbelsterne, mir ist alles recht, solange ordentlich zitiert und kein gewerblicher Zweck damit verfolgt wird, was echten Idealisten natürlich selbstverständlich ist.


Verschenken Sie die Anmerkungen also gern, Sie haben hiermit meine ausdrückliche Erlaubnis dazu!  Wer weiß, vielleicht werden die Texte, die auch gut für sich allein stehen können,  zu so etwas wie einem Grundstock für ein ganz neues idealistisches Netzwerk? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freuen würde! Was lässt sich nicht allein schon mit ein paar Spickzetteln bewirken, auf denen etwas Inspirierendes, Ermutigendes oder auch einfach nur “Bewusstseins-Erheiterndes” ( wie de Mello es nennt)  nachzulesen ist - es wäre nicht das erste Mal, dass uns ein einziges Zitat einen ganzen Tag rettet, den wir sonst vielleicht “in den Papierkorb verschoben hätten“.


Ein guter Satz kann Licht ins Dunkel der trübsten Gedanken bringen - was der Grund dafür sein dürfte, dass es in diesem schönen Land immer noch so viele Buchhandlungen gibt. Hier warten  Millionen guter, schöner und sehr wahrer Sätze geduldig darauf, von den Lesern gefunden zu werden, die sie gerade dringend brauchen. So manchem Autor und so gut wie allen Buchhändlern ist das schon Belohnung genug.  Zumindest wärmen sie sich an diesem Gedanken, wenn ihnen beim Blick auf ihre Kontoauszüge wieder mal das kalte Grausen kommt. Aber apropos kaltes Grausen.


Kluge Leute wissen: wer etwas Gescheites zum Lesen dabei hat, sei es nun digital oder auch durchaus analog,  dem kann der tägliche Wahnsinn nicht allzu viel anhaben. Denn damit bringt man sich nicht nur wieder auf Kurs, so man - zum Beispiel durch ein Übermaß schlechter Nachrichten - einmal davon abgekommen sein sollte. Man weiß auch: man ist nicht allein. Denn anderen geht es genauso. Und es sind, wie wir beweisen konnten, nicht eben wenige. Die Guten, vergessen wir das nie, sind überall unterwegs, wenn auch zumeist inkognito.  

Nun wissen Sie, warum mein wunderbarer Verleger Johannes Thiele und ich ein Buch machen wollten, das man auch bei Sektempfängen und anderen  Veranstaltungen von zweifelhaften Unterhaltungswert mit sich führen kann. Denn wie wir alle wissen, gibt es Zusammenkünfte, die eigentlich nicht ohne ein starkes Betäubungsmittel zu ertragen sind. Bei derlei Gelegenheiten, die sich auch schon mal hinziehen können,  erweisen sich gute Texte wie diese denn auch als überaus nützlich, wenn nicht gar als lebensrettend. Deswegen verdünnisieren sich vernünftige Zeitgenossen unauffällig ( im Idealfall unter Mitnahme von ein bis zwei belegten Brötchen ), lesen ein paar Seiten und stellen sich danach erquickt wieder dem Alltag.   


Das klappt wunderbar!  So macht es auch mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel, dem Sie im “Club der Idealisten” ja schon öfter begegnet sind und von dem Sie sich auch im zweiten Band des “Clubs” so einiges erwarten dürfen. Er schreibt nämlich schon seit einer ganzen Weile an dem herum, was er mit einem Augenzwinkern sein “Konservationslexikon” nennt. Dabei handelt es sich um ein  Wörterbuch für Idealisten. Im Unterschied zum klassischen Konversationslexikon, wie es auch heute noch in den Bücherschränken der bürgerlichen Mitte zu finden ist, geht es in Herrn Frewels Nachschlagewerk um all die Werte, die gerade verloren zu gehen scheinen.  Doch darüber später mehr.


Ulrich Frewel ist, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, ein überaus heller Kopf. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ist er  nie ohne mindestens ein Reclamheft unterwegs gewesen. Seither hat er selbst noch auf U-Bahn-Rolltreppen, an Fahrkartenschaltern und im Kaffeehaus darin gelesen, wenn nichts anderes parat war und er hat noch nie Probleme gehabt, darüber mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die ebenso wie er mit blitzenden Augen unterwegs sind. Sie wissen: wer liest, hat mehr vom Leben. Schon weil er nicht Gefahr läuft, irgendwo vor Langeweile mit dem Kopf aufzuschlagen. Oder sich vor lauter Stumpfsinn eine Migräne zuzuziehen, die man dann tagelang nicht mehr los wird!  So ein Reclamheft passt selbst noch in den vollsten Rucksack, es ist nur etwa smartphonegroß, wiegt aber so gut wie nichts und hat außerdem den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass es unsere Aufmerksamkeit aufs angenehmste auf einen einzigen Gegenstand  richtet, statt auf drei Dutzend anderer gleichzeitig. Außerdem pfeift und blinkt und dudelt da nichts - man hat seine Ruhe, keiner redet einem dazwischen und das ist schon sehr, sehr angenehm.
Die netzgewandte jüngere Generation scheint damit zwar kein Problem zu haben.  Sie liest Texte wie diese auch auf dem Smartphone, mit etwas Übung kann man selbst da den allseits bekannten Formen von Ablenkung entgehen, wie ich mir habe sagen lassen. Wie dem auch sei: ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre der nun folgenden Beobachtungen, die, soviel sei schon hier verraten,  zum Teil auch etwas fuchtig daherkommen. Ansonsten  “mäandernden” sie ( wie mein  hochkultivierter, fließend mehrere Idiome parlierender Verleger es nennt) fröhlich durch die  Weltgeschichte, berichten von klugen Büchern, die ebenso wie wir veraltete Denkmuster infrage stellen und zuweilen stöbern wir auch, wenn wir querfeldein unterwegs sind, die merkwürdigsten Geschichten auf. Wie sagte Johannes Mario Simmel, den zu unterschätzen lange Mode war?  “ Natürlich kann ein Schriftsteller die Welt nicht verändern.  Aber er kann die eine oder andere Sauerei abstellen!”  
Versuchen wir´s einfach! Regen wir uns zur Abwechslung einmal über die wirklichen Schuldigen in dieser unübersichtlichen Gemengelage auf!   Wenn jeder, dort wo er steht, tut, was er kann, hätten wir die Sache bald aufs schönste im Griff.    


Doch nun genug der Vorrede.

 

Fussnoten

1  Der amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist Daniel Goleman
( * 1946) hat mit den von ihm geprägten Begriffen der emotionalen bzw. der sozialen Intelligenz auf den IQ als Bemessungsgrundlage menschlicher Intelligenz ein völlig neues Licht geworfen, wofür wir ihm ewig dankbar sein müssen.  Denn bis knapp vor der Jahrtausendwende(!) galt besagter IQ allenthalben als das Maß aller Dinge, und dabei wäre es sicher auch geblieben, hätte Goleman nicht den Nachweis erbringen können, dass diese Tests auf ein paar sehr fragwürdige Theorien zurückgehen. Sie sind das Geistesprodukt (Geizesprodukt?) eines, gelinde gesagt, schon sehr seltsamen alten Knochens, über den es noch eine ganze Menge anzumerken gäbe, doch vielleicht genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Tests in der Regel nicht nur zu fehlerhaften, sondern oft sogar völlig falschen Ergebnissen führen.  Außerdem läßt sich die Tatsache nicht von der Hand weisen, dass der IQ lange Zeit etwas vermessen zu können meinte, was nicht einmal richtig definiert ist:  Intelligenz ist nämlich ein ziemlich weites Feld.  Bei dem Versuch, den Begriff abzugrenzen,  können kluge Köpfe sich gut und gern einen ganzen Abend lang die Köpfe heiß reden, wie jeder weiß, der das schon einmal versucht hat. Dass Schlauheit nicht dasselbe ist wie Klugheit, wissen Idealisten natürlich schon lange. Doch Golemans Verdienst ist es, darauf hinzuweisen und dem guten alten gesunden Menschenverstand ein paar neue, schicke Namen zu geben: emotionale und soziale Intelligenz nämlich.  Dafür hätte er eigentlich den Nobelpreis bekommen müssen, denn tatsächlich sind seine Überlegungen, wie es in den Begründungen des Komitees immer so schön heißt, bahnbrechend. Außerdem haben sie dazu geführt,  dass Personalentscheidungen heute ein wenig anders aussehen als noch vor nicht allzu langer Zeit. Und noch etwas hat man seither gelernt: alle Wirtschaftswissenschaftler müssen sich jetzt auch mit den erst seit kurzem so genannten Softskills auseinandersetzen, mit emotional intelligenteren Managementmethoden also. Ob´s was hilft? Ich wage es zu bezweifeln! Denn dahinter steckt ein technokratisches Verständnis dessen, was unsere Gesellschaft zusammenhält, doch lassen wir es damit gut sein, sonst könnte man schon bei der ersten Fußnote der Verzweiflung anheimfallen. Denn genau diese herzlose technokratische Auffassung, mit der die Ökonomie alles angeht, scheint der Kern dessen zu sein, was dem Globus gerade zu schaffen macht.     
Golemans  Bücher, die im dtv-Verlag bzw. bei Droemer Knaur erschienen sind, kann man sich direkt unters Kopfkissen legen und seine neuesten Überlegungen zum Thema Kreativität gleich mit: In Konzentriert Euch!  (2014) weist er nach, dass zu echten Leistungen nur fähig ist, wer das Talent hat, sich mit Begeisterung, Leidenschaft und  Ausdauer in etwas „hineinzuknien“ und  die Flinte auch nicht so leicht ins Korn zu werfen. So - und nur so - entsteht Kultur. Das sind, wenn ich jetzt mitgerechnet habe, gleich drei Bücher fürs Kopfkissen. Das ist vielleicht ein bisschen viel. Zumal da noch ein paar andere Titel hingehören, die ich Ihnen auf den folgenden Seiten mit heißem Herzen dringend anempfehle.

2  Jakob Soedher  ist  übrigens der Autor einer ganzen Reihe von heiter-liebenswerten Krimis, die alle zwischen Lindau und München angesiedelt sind. Ich verwende seinen nom de plume, auch wenn das  Pseudonym, unter dem er publiziert, ein Tick anders ist als hier angegeben. Doch abgesehen davon ist so gut wie alles an dieser Geschichte genau so wiedergegeben, wie es sich ereignet haben dürfte.  
Jakob Soedher ist übrigens häufiger in unseren Buchhandlungen anzutreffen. Er kommt auf einen Kaffee und einen Plausch und er signiert, wenn wir ihn lieb drum bitten, auch ein paar seiner Bücher. Dabei muntert er uns alle mit unfehlbar guter Laune auf, was wir vor allem bei Nebel und Dauerregen sehr zu schätzen wissen.    

3  Es hat sogar die seit den Siebziger  Jahren des vergangenen Jahrtausends überaus beliebte Formulierung “Ich stehe gerade im Stress” abgelöst und dankenswerterweise auch das nervtötende “Ich sitze gerade im Zug”, das vor allem  Bahncardbesitzern regelmäßig den Vogel raushaut und den Wunsch auslöst, nach Kanada auszuwandern. Oder in ein Land, in dem derlei Sätze - vor allem in Verbindung mit nervenden Klingeltönen -  gesetzlich verboten sind.  Aber im Ernst: laut Unfallstatistik stehen email-checkende bzw. SMS-schreibende  Verkehrsteilnehmer  inzwischen ganz oben auf der Liste unfallbeteiligter Personen, wie  Manfred Spitzer in seinem mutigen Buch Digitale Demenz (München: Droemer Verlag 2013) eindrücklich belegt. Übrigens ist kaum ein Titel  in den letzten ein, zwei Jahren so kontrovers diskutiert worden wie die Digitale Demenz.  Am schärfsten wurde Spitzer übrigens von Leuten kritisiert, die das Buch ganz offensichtlich gar nicht gelesen hatten. Ich weiß das so genau, weil ich Spitzers Beobachtungen ziemlich genial finde und die Talkshows dazu verfolgt habe. Auch Harald Welzers neues Buch Die smarte Diktatur (Fischer-Verlag 2016) ist mehr als nur ein wenig Wasser auf die Mühlen überzeugter Technikmuffel: Welzer gehört zu den Trendsettern einer neuen, vorwiegend analogen Kultur, die sich nur noch ausgewählter digitaler Werkzeuge bedient. Und die es genießt offline zu sein.
 
4  Zumal sein Navi auf den Namen Findefix getauft war!  Ich fürchte ohnehin, dass Dominik K. die charakterbildenden Geschichten von Asterix und Obelix nie gelesen oder jedenfalls nie verstanden hat, ebenso wenig wie er Gustav Schwabs Sagen des Klassischen Altertums kennen dürfte. Denn tatsächlich sind die Abenteuer dieser höchst sympathischen Dickköpfe so etwas wie moderne Odysseen: da ziehen zwei Helden ( die durchaus über jeweils drei bis fünf Achillesfersen verfügen) in die weite Welt und sorgen mit pfiffigen Ideen (Asterix) und auch der einen oder anderen wohlplatzierten  Ohrfeige (Obelix) für ausgleichende Gerechtigkeit, obwohl sie beständig von einer weltbeherrschenden Übermacht bedroht sind, von der sich alle anderen auch wirklich einschüchtern lassen. Nehmen Sie einen beliebigen Mythos (David und Goliath zum Beispiel) oder irgendein Grimm´sches Märchen, von mir auch einen Scifi-Streifen (Minority Report) - die Geschichten bleiben sich im Grunde genommen immer gleich:  dem/ der Mutigen, der/ die reinen Herzens gegen das Böse angeht, gelingt schließlich das Wunder, an das keiner mehr geglaubt hat. Die gerechte Sache siegt immer! Man mag dagegen zwar einwenden, dass es in Wirklichkeit wohl kaum so ist, doch die Geschichte beweist, dass ein Koloss auf tönernen Füßen ein unsicher Ding ist. Weswegen ich mir auch  Asterix und Obelix an der Wallstreet zum Beispiel mal wünschen würde! Da könnten sie ihre satirische Gesellschaftskritik, die die ganz alten Asterix-Abenteuer auszeichnet, einmal wieder so richtig anbringen. Würde vielleicht was helfen!  Und vielleicht rettete eine solche Geschichte noch das eine oder andere Greenhorn, das schon drauf und dran war, seine Seele dem Teufel zu verkaufen.  

6  Vor allem der homo oeconomicus mit Bachelor- oder einem entsprechend anderen Titel! Spieltheoretiker haben inzwischen eine seltsame Beobachtung gemacht: Wirtschaftswissenschaftler höherer Semester verhalten sich in eigentlich kooperativen Spielen deutlich selbstsüchtiger als Studienanfänger. Das heißt, sie lernen rücksichtsloses Handeln in der Regel erst nach und nach! Man erzieht sie also dazu! Das gehört für mich zu den spannendsten neuen Erkenntnissen, über die der Motivationspsychologe Adam Grant in seinem ebenso spannenden Buch Geben und Nehmen berichtet (München: Droemer-Verlag, 2013).  

6 … ein zugegebenermaßen etwas spitzfindiges Wortspiel, das eigentlich nur noch der klassische Bildungsbürger verstehen wird, der weiß:  derselbe und der gleiche ist durchaus nicht dasselbe, auch wenn es inzwischen fast überall synonym gebraucht wird. Sätze wie  „Der gleiche Mann, wo gestern Abend da war, war heute scheinbar noch mal da,“ führt bei sprachsensiblen Mitmenschen inzwischen zu akuten Schüben von Kulturpessimismus, die  sich vor allem bei Vollmond auch schon mal zu den schlimmsten Migräneattacken auswachsen können. Was aber soll man dagegen tun? Sich unbeliebt machen, indem man seine Mitmenschen darauf hinweist, dass es nur derselbe Mann gewesen sein kann, der anscheinend da war, es sei denn, er hätte einen Bruder, der genau so aussieht? Das macht natürlich niemand! Jedenfalls kein Idealist. Die Höflichkeit verlangt, dass er sich jeden Kommentar verkneift. Was dazu führt, dass derlei Sprachschlampereien irgendwann allgegenwärtig sind. So ist das mit allem: „Wenn die Klügeren schweigen, regieren die Dummen die Welt“ - dieses, auf Marie von Ebner-Eschenbach zurückgehende Zitat ist auch an einer unserer Pinnwände nachzulesen. Ebenso wie der schlichte Merksatz, den ich für unsere Lehrlinge entworfen habe, um ihnen den Unterschied zwischen derselbe und der gleiche zu verdeutlichen: „Mann kann zwar wochen-, monate- und sogar jahrelang die gleichen Socken tragen. Nicht aber dieselben!  ( Zumindest nicht, wenn einem an menschlicher Gesellschaft gelegen ist) “ Diese sehr simple Unterscheidung leuchtet sofort jedem ein.  Eine einfache Eselsbrücke wirkt manchmal eben Wunder. Vielleicht könnten wir den Kennzahlenverwaltern in Politik und Wirtschaft auch mal ein paar Merksätze zurechtbasteln, die das leider inzwischen kontaminierte „Wir sind das Volk!“ ersetzen. Zum Beispiel: No bullshit!  Ein solcher Slogan hätte den Vorteil, dass er auf der ganzen Welt verständlich ist und sich überdies noch durch eine gewisse
 Bodenständigkeit auszeichnet. Was bullshit ist, weiß jeder.  Vielleicht würden sich die bullshitter (wie die amerikanische Kulturkritik ihre Führungsriege nennt) dann überlegen, ob sie uns weiter zum Besten haben wollen. No bullshit! - wenn ich den weiter unten beschriebenen Revolutionsbedarfsversand  hätte (vergl. Fußnote No.40)  würde ich gleich mal ein paar Anstecker mit dem Text machen lassen, auf dass (mit Verlaub)die große „Volksverarsche“, wie der wunderbare Hannes Jaenicke sie nennt, endlich mal aufhört. No bullshit! Das unterschreibt Ihnen auch sofort jeder Vegetarier. Und jeder Klimaexperte ohnehin, denn dieser bullshit stinkt nicht nur zum Himmel, er brennt überdies weitere Löcher in den ohnehin schon dünnen Firniss des Globus. No bullshit -  wäre, bei Licht besehen, auch ein guter Titel für ein Buch. Ich schenk ihn Ihnen. Schreiben Sie das Buch dazu!
      
7  Norden, Osten, Süden, Westen -das merkten wir uns auch mit so einer  schönen Eselsbrücke Nie ohne Seife waschen.

8  Was vor allem deswegen traurig ist, weil diese Insel sogar die dickfelligsten Zeitgenossen zu verzaubern imstande ist! Die Mainau ist nämlich ein ganz besonderer Ort, denn hier scheint das Gute zuhause zu sein. Auf der Insel liegt ein Segen, den jeder spürt, der sie besucht und von dem man noch wochenlang zehren kann, wenn man ihn sich ein wenig einteilt. Dutzende von Gärtnern, die alle ganz offensichtlich das lieben, was sie tun, kümmern sich um die weitläufigen Anlagen und schaffen immer wieder neue, atemberaubende Ausblicke auf den See. Selbst Petrus scheint die Mainau ins Herz geschlossen zu haben: die Insel hat, wenn mich nicht alles täuscht, immer ein paar Sonnenstunden mehr als jeder andere Ort der Republik. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass der wunderbare Lennart Bernadotte und seine liebenswerte Gemahlin Sonja inzwischen höheren Orts  ein gutes Wort für das Paradies einlegen, dass sie in jahrzehntelanger unermüdlicher Arbeit geschaffen haben. Dieser Lennart, der eigentlich ein Prinz war, mehr noch, ein schwedischer Erbfürst, wäre eigentlich König von Schweden geworden, hätte er nicht 1932 durch seine Heirat mit einer Bürgerlichen sämtliche Titel und Erbansprüche verloren - zum Glück für uns, denn sonst sähe diese zauberhafte Insel völlig anders aus. Außerdem gäbe es in der Schwedenschenke (hinter dessen Tresen der Graf zuweilen selber stand) keine Köttbullar - und ach, so einiges andere, Wunderbare, auch nicht, das sich der Prinz ausgedacht hat, um uns zu beglücken. Mich fasziniert diese gewaltige Kreativität immer wieder, ebenso wie die Vorstellung, dass die europäische Geschichte, hätte es die Bernadottes nicht gegeben, völlig anders verlaufen wäre. Denn Jean-Baptiste Bernadotte (1763-1844), der als Karl XIV.Johan den schwedischen Königsthron bestieg, spielte eine tragende, wenn nicht gar entscheidende Rolle in Napoleons Russlandfeldzug 1812 und den Befreiungskriegen. Ohne die Allianz zwischen Bernadotte und dem russischen Zaren wäre alles anders gewesen, Napoleon hätte Schweden kassiert, es gäbe keinen Schwedenstahl und kein Ikea, keine Köttbullar (s.o.)  und keine Nobelpreisverleihung in Stockholm. Das ist alles sehr spannend - in einem meiner Läden gibt es dazu auch eine kleine Sonderausstellung und wer mag, kann sich die Historie dort im Detail zu Gemüte führen. Kehren wir noch einen Augenblick zurück auf die zauberhafte Mainau, auf der zuweilen denn auch Mitglieder der schwedischen Königsfamilie zu Gast sind. Heute führen die Geschwister Bettina und Björn Bernadotte das Lebenswerk ihrer Eltern mutig fort, was nicht eben leicht sein dürfte. Die Unbilden des Wetters können einem nämlich auch ganz leicht einen Strich durch die Rechnung machen.  Inzwischen ist die Mainau das ganze Jahr über geöffnet - täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, danach gehört die Insel wieder der Familie. Es gibt darauf kein Hotel und keinen Tanzschuppen, denn die Bernadottes haben es immer verstanden, das Schöne zu kultivieren und nie einen bis ins Letzte  vermarkteten Rummelplatz daraus zu machen. Deswegen werden hier hin und wieder auch ein paar Märchen wahr, wie das folgende, das ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten kann. Es gehört auch zu den Geschichten, die es nie in die Zeitung geschafft haben. Es ist schnell erzählt: vor nicht allzu langer Zeit begann eine junge, bemerkenswert hübsche Sozialarbeiterin für die gemeinnützige Stiftung der Familie Bernadotte zu arbeiten - “Gärtnern für Alle” bemüht sich um die Integration benachteiligter junger Leute. Eines Tages lernte Christine Stoltmann einen jungen Gärtner kennen, einen  Studenten der Philosophie und Soziologie eigentlich, der aber während seiner Semesterferien auf der Insel aushalf. Dass er einer der Bernadotte-Söhne war, ahnte die jetzige Gräfin Christine damals allerdings nicht. Ein Jahr später waren die beiden verlobt, kurze Zeit später verheiratet und inzwischen sind sie auch glückliche Eltern. Was wohl bedeutet, dass Märchen auch heute noch wahr werden können. Auch wenn sie, das stimmt schon, nicht gerade auf der Tagesordnung stehen…

9  Als ich im vergangenen Frühjahr nach München fuhr,  wies ich beim Vorzeigen meines Fahrscheins den Zugbegleiter darauf hin, dass ich am Morgen leider vergessen hatte, die neue Bahncard einzustecken. Ich hatte also nur die alte dabei, die ein paar Tage zuvor abgelaufen war. Zur Belohnung bekam ich denn gleich ein Ticket, weil ich genaugenommen wirklich „ohne gültigen Fahrschein“ unterwegs war. Da ich seit vielen Jahren die klassische Bahncard 50 abonniert habe und der Fahrschein für Hin - und Rückfahrt gelten sollte, hätte man der Einfachheit halber ja beide Fahrten entwerten können, zur Strafe sozusagen, aber nein: man wird gleich als Schwarzfahrer gebrandmarkt, was einem einen schönen Frühlingstag schon ziemlich vermiesen kann.
   
10  Ganz ähnliche Ausdrücke finden sich in fast allen romanischen Sprachen: perder el norte, sagen die Spanier: den Norden verlieren, estar desnorteado die Portugiesen,  perdere la bussola die Italiener. Im Rumänischen ist es ähnlich, auch das Türkische und das Serbische verwenden,  wie ich mir habe sagen lassen, ein verwandtes Bild. Erstaunt war ich, als ich im Languedoc  perdre la tramontane vernahm - die tramontane  ist dort eigentlich ein aus Nordwest von jenseits der Berge („tras montana“) wehender trockener Fallwind. Aber er ist eben auch der Name für den über dem Gebirge aufgehenden Nord- oder Polarstern. Er ist das hellste Gestirn des Kleinen Bären (alias kleinen Wagen)  und diente  Jahrtausende lang den Seefahrern zur Orientierung. Wer ihn „verliert“, hat erst mal schlechte Karten.

11  Aus genau diesem Grund ist -Sie erinnern sich vielleicht daran - vor nicht allzu langer Zeit ein Öltanker im Mittelmeer auf Grund gegangen. Über die Sauerei, die er dadurch verursacht hat, ist bei Greenpeace mehr nachzulesen.

12   Zum Thema Blender seien Ihnen die immer noch unübertroffenen Bücher von Roman Maria Koidl ans Herz gelegt, die beide (sehr zu Recht) auf allen  Bestsellerlisten standen. Blender: Warum immer die Falschen Karriere machen.  München: Goldmann 2012, bzw. Scheißkerle. Warum es immer die Falschen sind (ebd. 2010). Auch Michael Schmidt-Salomons Streitschrift Keine Macht den Doofen ( München:Piper 2015) ist ein Appell an die Vernünftigen, weder den Finanzakrobaten noch anderen Hasardeuren freie Hand zu lassen: warum nehmen wir es immer nur hin? Sehr empfohlen sei an dieser Stelle auch Benedikt Herles´ Die kaputte Elite. Ein Schadensbericht aus unseren Chefetagen (München: btb 2014). An mahnenden Stimmen fehlt es keinesfalls: jede Buchhandlung, die etwas auf sich hält, leistet hier Aufklärungsarbeit. Hier kann, wer mag, sich über den Stall, den es auszumisten gilt, erstmal informieren. Wie wir das im Detail hinkriegen wollen, darüber muss man natürlich schon noch mal nachdenken. Hier ist, wie so oft, guter Rat teuer. Aber Herkules hat´s ja auch hingekriegt damals. Vielleicht könnten wir auch einen Fluss durch besagte Ställe leiten, einen Informationsfluss?   

13  Sie erinnern sich bestimmt: dieser Stratege setzte  am 13.Januar 2013 die mit dreitausend Passagieren und einer tausendköpfigen Mannschaft  besetzte Costa Concordia auf Grund, weil er Lust hatte, statt des langweiligen Kurses, auf dem er unterwegs war, ein paar Damen zu beeindrucken, indem er sich (ohne auf etwas so Überflüssiges wie seine Seekarten zu achten) in unbekannte Gewässer begab. Als ihm vor der Insel Giglio  ein Fels in die Quere kam (mit dem natürlich keiner rechnen konnte!) begann sich das Schiff auch prompt zu sinken. Schettino, dieser Galgenstrick, hatte daraufhin nichts Besseres zu tun, als sich schleunigst mit zehn seiner Offiziere auszubooten und alle anderen  ihrem Schicksal zu überlassen. An Land begab er sich in Hafenkommandatur, wo man ihn dazu aufforderte, gefälligst unverzüglich wieder an Bord zurückzukehren („Schettino, torni a bordo!“), worauf der „maledetto“ aber keine rechte Lust hatte. Er soll sich die Rettungsmaßnahmen dann espressoschlürfend vom Hafen aus angesehen haben. Bis vor kurzem stand Schettino unter Hausarrest, fand das aber ganz ungerecht, weil er doch eigentlich nichts Schlimmes gemacht hatte, wie er fand. Inzwischen hat man ihn richtiggehend eingebuchtet, was aber an seiner grundsätzlichen Einschätzung nichts geändert hat. Psychopathen bzw. an APD (=antisocial personality disorder) leidenden Patienten haben grundsätzlich kein Unrechtsbewusstsein. Das kann man auch regelmäßig in den Interviews beobachten, die Börsenheinis nach den ebenso regelmäßigen Börsencrashs geben. Die Jungs finden gar nichts dabei! Sie halten es auch für völlig normal, dass nach sie nach so einem Crash mit ungekürzten Bezügen nach Hause gehen. Sie haben ja eigentlich nur ihren Job getan. Und da Pleiten systemimmanent sind, lässt sich nicht einmal viel dagegen einwenden.       

14   Um einen von Nassim Taleb geschaffenen Begriff zu benutzen, über dessen wegweisendes Konzept des Schwarzen Schwans im nächsten Band des Handbuchs mehr in Erfahrung zu bringen sein wird.

15    Im Original klingt´s übrigens noch schöner:  „(…) there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also known unknowns - the ones we don´t know we don´t know.“ Einen Film dazu gibt es auf youtube. Die deutsche Übersetzung stammt aus der Feder von Arno Widmann (Berliner Zeitung vom 19.3.2011) Rumsfeld hat sich mit diesem Gestammel damals unsterblich lächerlich gemacht und seine PR-Leute versuchen noch heute, diese Scharte auszuwetzen, allerdings ohne große Erfolg. Wobei der Satz selbst in einer Philosophie-Vorlesung ja durchaus brauchbar wäre. Rumsfeld benutzte ihn aber als Entschuldigung, als Ausrede  für etwas, das durchaus hätte verhindert werden können.

16    „Wie konnte es soweit kommen, dass der Wunsch das Richtige zu tun, als Charakterfehler angesehen wird?“, fragt auch Fanny Price in Jane Austen´s Mansfield Park (1811).  Das Phänomen ist also nicht ganz neu.

17   Ungelogen - ich war schockiert, als ich das in Susan Cains fabelhaftem Buch  Still las (Still. Über die Bedeutung von  Introvertierten in einer lauten Welt.  München: Riemann/ Goldmann 2011).   Wenn ich eine Liste unserer wichtigsten Bücher  aufstellen sollte: Susan Cain stände wahrscheinlich auf  einem der ersten Plätze. Sie ist das, was man drüben als a real eye opener bezeichnet.  Auch Karen Duves Buch möchte ich Ihnen gern ans Herz legen: Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen. (Berlin: Galiani 2014)  In diesem bestens recherchierten  und stilistisch brillanten Buch weist sie auf die Ergebnisse neuerer sozialpsychologischer Forschungen hin, die inzwischen davon ausgehen, dass etwa ein Prozent der Menschheit eine psychopathische oder soziopathische Persönlichkeitsstörung mitbekommen haben. Sie scheint zum Teil angeboren, zum Teil erworben zu sein. Das klingt nach nicht viel - aber in der Summe kommen da schon eine ziemliche Menge Stinkstiefel zusammen. Es gibt also in  allen Kulturen einen relativ konstanten Prozentsatz von Durchgeknallten. Während ein Teil davon eine  Verbrecherkarriere anstrebt, wird der Rest in unseren  angeblich liberalen Wirtschaftssystemen nach oben gespült, wo er so richtig Ärger macht. Und eventuell sogar eine Gefahr für alle darstellt: das macht Karin Duve sehr klar und sie schreibt auch nicht ( wie die Autorin dieser Zeilen) um den heißen Brei herum. Diese neunundneunzig-zu-eins-Relation wird übrigens auch von anderen  Autoren angeführt, wenn sie die Zahl der Oberteufel zu quantifizieren versuchen. Ein Prozent klingt nach einer quantité negligeable. Aber wenn Sie einen schlimmen Backenzahn haben, einen eingerissenen Fingernagel oder ein Hühnerauge,  ist das auch verhältnismäßig wenig. Aber es kann einem sehr zu schaffen machen. Und achtzig Millionen Läuse im Pelz der Menschheit wird man eben auch nicht von heut auf morgen los, zumal wir noch kein passendes Gegenmittel gefunden haben. Dafür sollte man mal ein paar Forschungsgelder zur Verfügung stellen, statt  immer bloß für Projekte, die dann doch nur der Großindustrie beim Gewinnmaximieren helfen. Auf das Thema, das mich persönlich aufregt wie noch mal was, komme ich bei Gelegenheit noch mal zurück.
 
18   Also auch die legalen Möglichkeiten, wenn auch nicht die legitimen. Unsere leider tendenziell etwas verblendeten Politiker basteln diesen Hanseln immer wieder die gesetzlichen Rahmenbedingungen fürs Plündern zurecht. Über diesen angeblich „alternativlosen“,  auch als Deregulierung bekannten Prozess wird in diesem Buch noch des öfteren die Rede sein, wenn auch eher in den Fußnoten.  

19  Dazu gehört zum Beispiel die Idee,  kluge Köpfe ganz einfach nur zusammen zu bringen. Was wir dringend brauchen, sind Ideen- und Kontaktbörsen für alle, die ganz konkret etwas ändern wollen. Ich würde mich freuen, wenn überall Clubs entstehen würden, Zukunftswerkstätten, in denen man sich mehr oder weniger planvoll Gedanken macht - die auch gesammelt werden, auch wenn sie zunächst nach nicht viel aussehen. An jedem (Kneipen-)Tresen  entstehen nämlich Tag für Tag Ideen, die durchaus Potential hätten, die aber, das ist leider wahr, fast alle verlorengehen oder als (vielleicht nur vermeintliche)  Schnapsidee eines frühen Todes sterben. Hin und wieder wird wohl mal eine auf einem Bierdeckel festgehalten, aber dann kann das Gekritzel wieder keiner lesen und schon gehen durchaus brauchbare Idee den Bach hinunter!
Mein Tipp - sammeln Sie sie!  Sammeln Sie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auch die scheinbar blödsinnigen Ideen. Und machen Sie was draus. Oder schicken Sie sie uns:  wir setzen sie auf die Website. Wir sind auch dankbar für Web-Adressen von Kreativen: daraus würden wir gern so etwas wie ein Adressbuch für Idealisten machen,  das andere dazu inspirieren soll, ganz ähnliche Steine ins Rollen zu bringen…

20  Dieses Phänomen kennen wir alle von der Autobahn: nach dem Motto „ Mir kann ohnehin nix passieren“ zieht so mancher  LKW-Fahrer inzwischen ohne Rücksicht auf Verluste nach links und beschert anderen Verkehrsteilnehmern damit Stressschübe, ohne die sie auch gut hätten auskommen können. Manchmal frage ich mich, ob unser Eindruck, die Welt werde nur noch von Rücksichtslosen bevölkert, nicht auf diesen tatsächlich  rauer gewordenen Umgang auf unseren Strassen zurückgeht, wo offensichtlich nur noch das Recht des Stärkeren/ Schnelleren gilt.

21 Die Fabel meint außerdem zu wissen, dass man das Wrack noch heute dort besichtigen kann, und tatsächlich soll, wie mir mein kanadischer Kollege Jean-Christophe Jolicoeur unlängst berichtete, ein Busunternehmer aus Halifax die clevere Idee gehabt haben, regelmäßige Ausflugsfahrten zu einem Leuchtturm anzubieten, dem man die ganze Geschichte kurzerhand anzudichten wusste. Diese Reisen sind offensichtlich auch immer ausverkauft, vor allem, seit der Unternehmer für kleines Geld ein paar ziemlich garstige, aber sehr eindrucksvolle Schrottteile besorgt und an den Strand dekoriert hat.  Er lässt auch einen früheren Leuchtturmwärter, der bei der Havarie dabei gewesen sein will, die schnurrigsten Geschichten dazu erzählen und zum Teil auch etwas gröberes Seemannsgarn spinnen, was offensichtlich von seinem gutgläubigen, immer empathischen Publikum mit überaus großzügigen Trinkgeldern honoriert wird.  Idealisten - das sei hier nebenbei erwähnt - erkennt man ohnehin daran, dass sie stets ordentliche bis fette Trinkgelder geben.  Doch zurück zu unserem Leuchtturmwärter:  seine Gattin Daisy hat kurze Zeit darauf ein in dieser Weltgegend auch als “shack” bezeichnetes Verkaufsbüdchen aufgemacht, wo es neben Duftkerzen, Räucherstäbchen, gebatikten T-Shirts, Schlüsselanhängern mit Peace-Zeichen,  Jute-Taschen und  Makramee-Ampeln noch weitere Devotionalien für Althippies, Friedensbewegte und Woodstock-Veteranen gibt. Und natürlich auch Kaffee, oder sagen wir, das, was man in Nordamerika für Kaffee hält, was andernorts aber unter der eher zutreffenden Bezeichnung Lurke bekannt ist.
Doch andere Länder, andere Sitten! In Nordamerika liebt man nun mal dieses Gebräu, das entsteht, indem man ein bis maximal zwei Kaffeebohnen quer durch einen Liter kochendes Wasser schießt. Und vielleicht ist das ja auch gesünder und nachhaltiger als unsere europäischen Absude, die auch schon mal den einen oder anderen Herzklabaster auslösen.
Das Kaffeegeschäft läuft jedenfalls  besonders gut, vor allem seit Daisy diese Idee mit den Donuts hatte, erzählte mir Jean-Christophe, als ich ihn unlängst in Quebec besuchte. Er ist mit Daisy zur Schule gegangen und trifft sie auch wohl hin und wieder.  Die nun folgende Nachricht habe ich also aus wohlinformierter Quelle und ausnahmsweise einmal nicht nur so vom Hörensagen. Daisy sei in ihrer Jugend - so wie alle, die etwas gegen den Vietnamkrieg  hatten -  nach Indien gefahren, habe Siddharta und Henry David Thoreau gelesen, sei aber im Unterschied zu vielen anderen in ihrer Seele stets der Hippie geblieben, der sie einst war, nur dass sie heute Thermostrumpfhosen unter ihren leicht psychedelisch anmutenden, stets ein wenig nach Patchouli duftenden Gewändern trage. Sie habe sich eigentlich  überhaupt nicht verändert, auch äußerlich nicht allzu sehr, findet Jean-Christophe. Sie sei immer noch das Mädchen von einst. Mit ihren knapp siebzig Jahren sehe sie keinen Tag älter aus als fünfzig, schwärmte er, weswegen ich mutmaße, dass er  ein wenig in sie verschossen ist. Vielleicht liege es ja daran, fügte er hinzu,  dass sie stets ein wenig “naturstoned” sei, wie man in Kreisen, die etwas davon verstehen, die Glücklichen nennt, die immer etwas high sind, ohne dass sie dafür ein Tütchen brauchen.
Auch die Schreiberin dieser Zeilen hat diese höchst praktische Eigenart, die vielleicht bloß ein Gen-Defekt ist, wer weiß, aber immerhin ein sehr praktischer:  wir sehen die Welt durch eine rosa Brille, weswegen man wohl auch einen Teil dessen, was wir so von uns geben, getrost in der Pfeife rauchen kann.
Und doch:  wer sich ein wenig in Geschichte auskennt, in der Geschichte menschlicher Geistesblitze vor allem,  wird bestätigen können, dass gerade die Blauäugigen stets die pfiffigsten Einfälle hatten, die die Geschäftstüchtigeren und die Gierigen dann unverzüglich vermarkten. Das scheint ein ewiges Gesetz zu sein.
Daisy hatte jedenfalls die feine Idee, ihre wirklich guten Donuts in Tüten auszugeben, auf denen nicht nur die denkwürdige Geschichte mit der Havarie noch einmal nachzulesen war, sondern auch ein paar von ihr selbst verfasste, sehr idealistische Texte mit lauter guten, zur Selberdenken einladenden Ratschlägen, die alle mit “Do nut” beginnen: (“Do nut complain,  Do nut do unto others etc. Do nut just sit there, save the world. )  Diese Do-nut-Donuts, berichtete mir Jean-Christophe, seien plötzlich wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln gegangen, zumal sie auch wirklich sehr lecker sind, so wie unsere Berliner eben, wenn sie ganz frisch aus der Backstube kommen oder aus der Küche eines Profis, der sein Handwerk wirklich versteht. Denn Frittiertes ist bekanntlich nicht eben einfach in der Handhabung.  Aber Daisy habe sie, kein Mensch weiß genau wie, mit so einen wunderbaren Karamellgeschmack hinbekommen, der diese Teilchen zu absoluten Suchtmitteln machte.
Doch eines finsteren Tages war alles vorbei, da nämlich ein Geschäftsmann, der vor der Sache gehört hatte, bei Daisy auftauchte und ihr für kleines Geld die Namens- und Autorenrechte dafür aus dem Kreuz leierte. Jetzt erfreuen sich  “Daisy´s Do-gooder Donuts”, wie er sie inzwischen nennt,  auch im Netz größter Beliebtheit - trotz des ungeschickt gewählten Namens: der do-gooder ist nämlich der amerikanische Cousin des deutschen Gutmenschen. Beide stehen nicht im Geruch der Heiligkeit, sondern werden hüben wie drüben gern als Heuchler diffamiert. Mit derlei Einschüchterungsvokabeln kann man  anständigen Menschen, die an Moral erinnern und an andere sperrige Richtlinien, gleich mal allen Wind aus den Segeln nehmen und sich gleichzeitig einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Übrigens  spendet besagter Unternehmer einen Teil des Erlöses für wohltätige Zwecke, auch wenn er wohlweislich niemandem auf die Nase bindet, dass es sich dabei nur um 0,01 Prozent vom Reingewinn handelt. Um Peanuts also. Zurzeit beackert er, wie man hört, zwar nur den nordamerikanischen Markt, doch es ist nicht auszuschließen, dass irgendein Parcel Service das industriell hergestellte Gebäck demnächst auch in die Alte Welt befördert -  wie heißt sie noch, eine von diesen Firmen? Fettex? Das passt doch!
Wenn sie frisch sind, mögen diese Fließband-Donuts ja noch essbar sein, doch ich wage zu bezweifeln,  dass die Fettkringel, nachdem sie ein paar Tage in einem Versandkarton unterwegs waren, noch zu etwas anderen taugen als zum Entenfüttern. Und selbst da muss man sich fragen, ob man eine anständige Ente, die was auf sich hält, mit derlei Gebäcken hinterm Ofen ( oder wo auch immer die lieben Tiere sich üblicherweise aufhalten) hervorlocken kann bzw. sollte.  Meiner Erfahrung nach essen nur Nerds  - und Studenten kurz vorm Examen - Faschingskrapfen, die älter sind als vierundzwanzig Stunden und die in punkto Bekömmlichkeit nur knapp hinter einem Flummi rangieren. In Einzelfällen sollen sie auch schon spontane Darmverschlüsse ausgelöst haben, doch darüber wollen wir jetzt nicht genauer nachdenken und unsere Aufmerksamkeit lieber auf einen interessanten Aspekt dieser Geschichte lenken: sie ist ja nicht nur ein neuerlicher Beweis für etwas, was wir alle wissen und worüber wir tagtäglich bis zum Überdruss informiert werden-  dass es skrupellose Menschen gibt, die bloß darauf warten, alle anderen übern Tisch zu ziehen, um sich selber zu sanieren. Doch damit nicht genug: jetzt sorgt unsere Politik dafür, dass diese G´schaftlhuber - wie man sie hierzulande nennt-   noch fettere Gewinne machen können, indem man dieses TTIP-Abkommen unterzeichnet, das einem Investorenschutz vor allem anderen Vorrang gewährt. Investorenschutz - mir kommen die Tränen! Die lieben, ach so armen Investoren!  Man muss die Wölfe vor den Lämmern schützen, die Jäger vor den Rehlein und die armen Schlangen vor den Fröschen!  Wie sagte Liebermann zu Corinth damals, im Herbst 1933 ?  “Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte!” Das klingt vielleicht etwas krude, dürfte die Sache aber ziemlich genau treffen. Die Parallelen zwischen den Ermächtigungsgesetzen und dem, was gerade jetzt wieder vor sich geht, sind zu deutlich. Sie fallen inzwischen sogar denen auf, die damals die Masern hatten, als das in Geschichte drankam. Und das will immerhin was heißen.

22  Achten Sie mal drauf: Menschen, denen nicht zu trauen ist, sind ganz leicht daran erkennbar, dass sie nie an etwas schuld sind. Es sind immer nur die anderen! Das scheint so etwas wie eine soziologische Konstante zu sein. Man hüte sich vor solchen Unschuldslämmern. Leute mit Charakter geben immer zu, wenn sie etwas versaubeutelt haben. Sie lügen auch nicht. Ich wüsste übrigens zu gern, wer diesen hanebüchenen Blödsinn aufgebracht hat, dass normale Menschen angeblich täglich vierzig bis zweihundert (!!)  Mal täglich lügen (die Angaben variieren hier sehr stark). Was für ein Humbug! Ich würde ja gern mal den Forschungsbericht sehen, der das beweisen zu können glaubt und mir die Konten seines Autors mal genauer ankucken:  dass Lügen ( Täuschen, sich Verstellen, sich Anpassen) etwas Normales ist, lass ich mir jedenfalls nicht verkaufen,  denn die Absicht, die dahintersteckt, ist leicht erkennbar. Hier wird alles Lügen verharmlost. Was den Lügenbeuteln natürlich gut ins Konzept passt und ein paar weniger charakterfeste Naturen dazu einlädt, es damit ruhig auch mal zu probieren - es sei ja völlig normal. Glauben Sie mir: es ist nicht normal. Lügen gefährden Ihre Seelenruhe.  
Eine Ausnahme sind höfliche Lügen,  die absolut nötig sind und die ich gefälligst auch von anderen erwarte („Du siehst aber gut aus!“). Aber abgesehen davon lüge ich für meinen Teil so gut wie nie, schon weil mir das viel zu anstrengend ist. Ein Lügner muss ja immerzu das Gebäude überwachen,  das er sich da zusammengelogen hat - also, das wäre nichts für mich und ich gehe stark davon aus, dass es Ihnen genauso geht.  Vierzig Lügen am Tag, die angeblich normal sind? Irgendeiner muss dann ja meine und Ihre Lügen mitlügen, damit die Statistik wieder stimmt. Wer soll denn da noch einen Überblick behalten?  Aber vielleicht - das kann hier nicht ganz ausgeschlossen werden - vielleicht bezieht sich die Statistik ja auch auf die Kunst, sich selbst zu belügen. Das ist aber was ganz anderes. Das ist nicht nur erlaubt, sondern nötig!  Echte Idealisten müssen sich schon allein deswegen was vormachen, weil sie sonst die Flinte ins Korn werfen.  Wenn man sich nicht anlügt, sitzt man bald den ganzen Tag mit wackelndem Kopp auf dem Sofa, was es unbedingt zu vermeiden gilt! Wie sollen wir sonst die Welt retten?

23     Mit meinem geschätzten Kollegen Ulrich Frewel habe ich jahrzehntelang in Rothenburg ob der Tauber eine Buchhandlung geführt, die übrigens 2004 einen vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgeschriebenen  Preis als beliebteste Buchhandlung Bayerns erhielt. Als Ulrich Frewel (*1934) in Rente ging, haben wir die Läden verkauft: seither widmet er sich ganz seiner geliebten Photographie.  Er ist spezialisiert auf historische Phototechniken, die er -zusammen mit vielleicht noch einer Handvoll ähnlicher Idealisten weltweit-  zur Perfektion beherrscht. Seine Bilder haben Tonwerte von tiefstem Schwarz bis reinstem Weiß, von denen digitale Photokunst nur träumen kann, da sie auch andere Papiere verwendet. Seine Lieblingstechnik ist die Kallitypie, ein spezielles, Mitte des 19.Jahrhunderts entwickeltes Verfahren, das Bilder von unvergleichlichem Schmelz ermöglicht. Ulrich Frewel ist heute, wie sich leicht errechnen lässt, über achtzig, nimmt aber an einer Ausstellung nach der anderen teil, in diesem Jahr waren es acht. Ulrich Frewel beweist die oft gemachte Beobachtung, dass Kreativität jung erhält: er geht federnden Schrittes und er hat eine Stimme, die man für die eines jungen Mannes in der Blüte seiner Jahre halten könnte. Wie schon oben erwähnt, liest er pausenlos, so er nicht in seinem zwölfhundert (!) Quadratmeter großen Garten unterwegs ist, den er ganz allein pflegt. Wenn man ihn nach seinem Geheimnis fragt, sagt er:  es sei nur Fleiß. Stetiges,  geduldiges, konzentriertes  Arbeiten ist der Kern aller Kreativität.
Zu diesem Schluss kommt auch Kevin Ashton, der das zurzeit sicher beste Buch zum diesem Thema geschrieben hat: Wie man ein Pferd fliegt (München: Hanser, 2016). Ashton ist ein britischer IT-Ingenieur, der viele Patente innehat und dessen „Internet der Dinge“ sogar Eingang ins Oxford Dictionary of English gefunden hat. Seine These: Kreativität hat weniger mit Inspiration zu tun, als mit Arbeit. Mit beharrlicher Konzentration auf eine Sache nämlich. Und der Ablehnung, Zeit für Banales zu verschwenden.  Damit wirft er ein völlig  neues Licht auf allen angeblichen therapiebedürftigen Workoholism, den kleine Geister gern bei wirklich schöpferischen Menschen diagnostizieren. Auf das Thema kommen wir an geeigneter Stelle noch einmal zurück: der Mainstream dichtet uns nämlich gern ein paar gänzlich erfundene Krankheiten an, für die er uns dann auch gleich das passende Gegenmittel verkauft. Damit schlägt er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: denn erstens schaltet er damit Querdenker gleich,  indem er sie als „gestört“ ins Aus manövriert und zweitens verkauft er ihm noch die Therapie dazu. Wenn ich darüber nachdenke, geht mir gleich das Messer auf im Sack!  Deswegen denke ich lieber, bevor mich allzu sehr darüber aufrege, mit Fussnote 24 und 25  weiter:       

24    Diese Zeitung ist übrigens ein sehr sympathisches Blatt, das einem das Gefühl vermittelt,  in einer überschaubaren und im wesentlichen auch wohlgeordneten Welt zu leben.

25  In unserem Buchcafé machen wir übrigens eine ganz ähnliche Kirsch-Tarte, die mit der Bregenzer durchaus vergleichbar ist, wenn ich das mal in aller Bescheidenheit so sagen darf. Das Rezept dafür schicken wir Ihnen gerne - ich habe inzwischen sogar eine gänzlich zuckerfreie Version entwickelt, die nur mit Honig gesüßt wird. Schreiben Sie uns einfach, wenn Sie das Rezept interessiert. Zurzeit bin ich ohnehin dabei, auf allgemeinen Wunsch hin all unsere Küchengeheimnisse zu sammeln und daraus ein kleines Büchlein zu machen. Mehr darüber finden Sie demnächst auf dieser Netzseite.

26   Die Autorin dieser Zeilen hat eine nur schwer zu erklärende Vorliebe für die Geschichten, die in Zeitungsannoncen - inzwischen auch Online-Kleinanzeigen - zu stecken scheinen. Was zum Beispiel ist von einem „Brautkleid, Größe 44, ungetragen“ zu halten?  Selbst eine ganz normale Tageszeitung ist täglich voller literarischer Ideen, wenn man genau hinsieht. Was da  nicht alles gesucht und gefunden wird! Damit kann man einen ganzen verregneten Sonntagnachmittag aufs angenehmste vertrödeln.

27     Kosten der Anzeige übrigens 21,70 Euro  incl. Mwst. Da sieht man mal, was man für kleines (oder auch gar kein) Geld in Bewegung bringen kann.

28    Wenn Sie sich jetzt  fragen, was ich mit der halben Person vernünftigerweise meinen kann, so sei hier angefügt, dass ich mich auf einen statistischen Mittelwert beziehe, den ein katholischer Pfarrer in meinem heimatlichen Sprengel  ermittelt hat - dreieinhalb Leutchen ist im Jahresschnitt die  Anzahl der Besucher seiner Morgenmessen.  Inzwischen bietet er aber eine zusätzlichen  sonntäglichen Gottesdienst um elfe an, der im Gemeindehaus stattfindet - man sitzt im Kreis und hinterher gibt es etwas Nettes, Ofenwarmes zu essen, das gemeinsam zubereitet wird. Und siehe da: plötzlich hat er seine „Kirche“ voll!  Vielleicht könnten Sie so etwas in Ihrer Gemeinde auch einmal vorschlagen? Ein bisschen mehr Urchristentum (und dafür weniger pomp and circumstance) täte uns allen gut.   

29  Eher nachdenkliche Menschen, die das Weltgeschehen mit Sorge betrachten, erlauben sich inzwischen Zweifel an dem viel beschworenen, aber völlig unbewiesenen  Trickle-down-Effekt anzumelden und dabei auch gleich die Mottenkiste des Liberalismus kritisch zu inspizieren.
Glauben Sie mir, da kann eine ganze Menge weg, wenn man mal richtig hinsieht und sich genauer bekuckt, was da alles an Fadenscheinigem herumliegt. Das kann man nicht mal mehr bei der Caritas abgeben oder irgendwie recyceln: da hilft nur noch der Reißwolf!
Angefangen hat das Elend mit dem eigentlich gut gemeinten Traktat des schottischen Philosophen Adam Smith (1723-1790).  In seiner vielzitierten Schrift  “Vom Wohlstand der Nationen” hat er es mächtig mit der “ordnenden Hand” des Marktes, eines Marktes also, der angeblich alles von alleine und selbstredend aufs schönste regelt. Dieses fast schon religiös anmutende Bild ist aus den Köpfen unserer Entscheidungs- und (vermeintlichen) Leistungsträger nie mehr rauszukriegen.  Es gehört zu ältesten Annahmen des kapitalistischen Unfehlbarkeitsmythos. Denn Adam Smiths Halluzinationen, die vielleicht nur die Folge eines zu üppigen Essens oder eines Gichtanfalls waren, erwiesen sich als hochpraktisch für die Ökonomie: sie sah sich dadurch von sämtlichen Verpflichtungen entbunden, die ihre unüberlegten Handlungen haben könnten und zwar nicht nur im sozialen, sondern auch im ökologischen Sinne.  Im Grunde genommen brauchte man sich also nur zurückzulehnen und däumchendrehend und/ oder auch bloß nasebohrend zuzukucken, wie der Markt alles regelt, “gerechte” Preise ermittelt und hinterher auch wieder die Löcher zuschaufelt, die er in die Erdoberfläche reißt.
Dass der Markt das eben nicht kann, weil er ´s gar nicht will,  hätten die marktliberalen Kräfte eigentlich schon ein paar Jahre später, anlässlich der großen Tambora-Krise, merken können: als im Jahr 1816 im damaligen Java der Vulkan Tambora ausbrach, fiel hier in großen Teilen Europas ein ganzer Sommer aus, es regnete und regnete so gut wie pausenlos fast vierzehn (!!!)  Monate lang (von April 1816 bis Mai 1817): die Ernten verfaulten auf den überfluteten Feldern, Hungersnöte, Cholera-Epidemien  und Auswanderungswellen waren die Folge - das Elend lässt sich kaum angemessen beschreiben.  Wenn damals nicht die Landesväter das Allerschlimmste durch regulierende Maßnahmen verhindert hätten - der Markt hätte es nicht geschafft. Im Gegenteil: seine (logische) Reaktion auf die Krise  war nur eine weitere Verteuerung. Darauf und auf das Buch des Historikers Wolfgang Behringer ( Tambora - Das Jahr ohne Sommer. München: Beck-Verlag, 2015)  kommen wir an anderer Stelle noch einmal zurück: für alle historisch Interessierten ist das mein zurzeit kostbarster Buchtipp, den ich Ihnen keine Sekunde länger vorenthalten möchte.
Dass Adams Visionen von einer “ordnenden Hand” also ziemlicher Humbug waren, sollte sich gleich, stante pede sozusagen, erweisen. Was aber die Ökonomen nicht daran hinderte, dieser abstrusen Theorie weiter anzuhängen. Wo käme man auch hin, wenn man sich von Tatsachen verwirren ließe! Man weiß also seit genau zweihundert Jahren, dass alles marktliberales Denken ein rechter Schmäh ist, macht aber fröhlich weiter wie gehabt. Unsere Welt könnte heute ganz anders aussehen, wenn man schon damals den völlig falschen Kurs korrigiert hätte, auf dem die Ökonomie unterwegs war.  
Besonders gravierende Folgen hatte die Chose bekanntlich  in God´s Own Country:  in den Staaten verlässt sich alles auf den obenerwähnten “Trickle-Down”-Effekt, der noch einen Schritt weitergeht und behauptet, dass über die Wertschöpfungskette der Wohlstand sozusagen von oben nach unten fließt, so wie die Schokoladensoße auf einem Walnuss-Amaretto-Becher und dann auch irgendwann “unten ankommt”. Was aber passiert, wenn ein paar Leutchen, die noch nicht reich genug sind, von oben schon mal das Meiste weglöffeln und die restliche Pampe dann stehenlassen? Dann kommt, Pfeifendeckel, unten nämlich gar nichts mehr an.       
Dass neoliberales Denken höchstens eine Fair-weather-Theorie ist, also nur  bei schönem Wetter funktioniert,  beweist auch die “Katastrophenhilfe”, die die Amerikaner ihren Landsleuten beim Hurricane Katrina angedeihen bzw. nicht angedeihen ließen.  Die ordnende Hand des Marktes sorgte damals dafür, dass überall im Süden so gut wie alle Motels und Leihwagenhändler ihre Preise flugs um tausend  bis zweitausend (!) Prozent erhöhten, auch Lebensmittel und vor allem Wasser waren,  wenn überhaupt, dann nur noch zu Wucherpreisen zu haben. Eine große amerikanische Warenhauskette, die mit wool- anfängt und mit -worth aufhört, interessiert sich seit Katrina immerhin für meteorologische Frühwarnsysteme.  Aber nicht etwa, weil sie aus lauter Nettigkeit den Betroffenen helfen will! Nein: sie will das nächste Mal mit ihren Lastwagen rechtzeitig zur Stelle sein, um so richtig Kasse zu machen.
All diese Zusammenhänge kann, wer mag, bei George Sandel nachlesen. In dem 2013 erschienenen Buch des Harvard-Professors „Was man für Geld nicht kaufen kann“ thematisiert er die grundsätzliche Problematik eines Marktes, der alles, aber auch wirklich alles zur Ware macht: vom Genmaterial für Saatgüter, die eigentlich Allgemeingut sind, plötzlich aber einem sehr fragwürdigen  Copyright (!) unterliegen sollen, über Organhandel und  Leihmutterschaften (für die es inzwischen eine ganze Industrie gibt) bis hin zum sehr zweifelhaften Kultur- und Forschungsstiftungen, mit denen Konzerne den Bildungssektor „unterstützen“.  Im Grunde sind sie nur an industrienaher Forschung und an Gefälligkeitsgutachten interessiert,  mit denen sie dann ihre äußerst zweifelhaften Produkte vermarkten können.
Wie diese Dinge zusammenhängen, weiß man hier in Europa schon länger: Christian Kreiß berichtet darüber in Gekaufte Forschung ( Europa-Verlag, 2015) - doch Vorsicht, wer das hervorragend recherchierte Buch liest, wird leicht um den Schlaf gebracht!  In den Staaten jedenfalls ist George Sandel zurzeit  meines Wissens der einzige Philosoph, der dem (selbst dort) wachsenden Gefühl des Unbehagens eine Stimme verleiht.   
Dafür hat er lange Zeit Kopf und Kragen riskiert. Hätte es seine Gerechtigkeit, die zwei Jahre zuvor auf den Markt kam,  nicht sofort auf sämtliche  Bestsellerlisten geschafft, hätte Professor Sandel seine Brötchen alias rolls fürderhin als Taxifahrer verdienen können. Das schreibt er zwar nirgends - aber da wir alle nicht auf den Kopf gefallen sind, können wir uns das zusammenreimen. In den Staaten kann man für derlei Attacken auf die Grundfeste des Systems auch leicht und unbürokratisch als vermutlicher Terrorist in Gewahrsam genommen werden, wie jeder weiß, der hin und wieder den Spiegel liest.   
Machen wir uns nichts vor: Neoliberalismus ist in Verbindung mit der perfiden Ideologie, dass jeder für sich selber verantwortlich ist,  nichts weiter als ein Alibi für die ganz Reichen.  Erinnern Sie sich noch daran, dass  der damalige Vizepräsident Cheney, als die ersten Nachrichten über Katrina nach Washington durchdrangen, nicht einmal Grund sah, seinen Angelurlaub zu unterbrechen? Und dass die Außenministerin Albright sich auch nicht beim Shoppen unterbrechen ließ? Sie reiste zwar dann notgedrungen an, inspizierte mit wohleinstudierter Betroffenheitsmiene das Bild der Verwüstung, trug dabei aber Prada und ließ sich zwischendrin in der Maske, die die Fernsehteams mitgebracht hatten, die Haare toupieren, ungelogen!  Vielleicht wäre vieles anders, wenn die ordnende Hand auch mal solchen  Rotzlöffeln eine schallern wurde, am besten dann, wenn sie wieder mal  etwas von win-win faseln, was kein vernünftiger Mensch mehr hören kann. Wie kriegen wir bloß diesen fiesen Fettfleck wieder aus unserer schönen Sprache? Mit win-win kommt einem inzwischen jeder Käsehändler, es ist zum Mäusemelken!  Das win-win ist des Müllers Lust, heißt´s demnächst noch!  Auch das Worst-Case-Szenario ist sehr beliebt, ebenso wie der break-even-point, mit dem der eine oder andere Sülze gepfeffert wird.  Ach, wie sagt mein geschätzter Kollege immer? „Wenn´s nicht zum Heulen wäre, wär ´s zum Lachen.“
Ich jedenfalls  wünsch mir nichts mehr, als dass endlich jemand all die Sand- und Heinzelmännchengeschichten, die uns die Mythenbildner des Neoliberalismus zumuten,  in so etwas wie einer Anthologie zusammenfasst, so dass auch Leute, die wenig Zeit haben, irgendwo nachlesen können, mit welch hanebüchenem Blödsinn man uns tagtäglich zum Narren hält. So ein Büchlein legen wir dann all unsern Politikern, jedenfalls den etwas unterbelichteten, untern Christbaum, vielleicht nützt ja das etwas. Ahnen unsere unmerklich zu Neo-Liberalen umerzogenen Volksvertreter wirklich nicht, dass unreflektiertes Investieren nur ein paar wenigen Schlaubergern Gewinne bringt? Während es gleichzeitig nachhaltig die Schöpfung schädigen, eine Gesellschaft stressen und vielleicht sogar entzweien  und überdies kommenden Generationen die Lebensgrundlage entziehen kann.      
Und was, bitte,  müssen wir tun, um unseren Politikern klar zu machen,  dass sie nicht aus unseren Steuern finanzierte Milliardenbeträge für eine Forschung ausgeben dürfen, an der nur Großkonzerne teilhaben?  Von der aber sämtliche Umweltschutzverbände und andere Querdenker  ganz bewusst ausgeschlossen werden? Wer genau darüber nachdenkt, kann leicht zum Alkoholiker werden. Vor allem, wenn man dann auch noch über weitere liberale/ liberalistische  Schlüsselwörter räsoniert.  Vielleicht gießen Sie sich noch einen Baldriantee auf oder genehmigen Sie sich ein schönes Bierchen, bevor Sie sich die nächsten zwei Fußnoten antun. Könnte sein, dass Sie es gut gebrauchen können.

30 Der Begriff Deregulierung gehört schon seit einer ganzen Weile zur Nomenklatur des Neoliberalismus. Er bezeichnet - was niemandem, der diese Zeilen liest, neu sein dürfte -  den Abbau sämtlicher Gesetze, die  vor allem die Finanz- und zum Teil auch die Realwirtschaft am Gewinnmaximieren hindern könnte.
 
31  Dagegen hätte niemand etwas einzuwenden, wenn es nur um Zollbestimmungen oder steuerrechtliche Regeln handelte. Aber die Deregulierung setzt unter vielem anderem auch Arbeitsgesetze außer Kraft, ebenso wie Umwelt- und Denkmalschutz-, ja sogar Lebensmittelgesetze, Hygienebestimmungen und vieles andere mehr.  Und in den USA inzwischen sogar Grundrechte. Ungelogen (!)  Grundrechte (!)  Neue Gesetzesentwürfe sehen nämlich vor, dass jetzt auch Konzerne etwas dürfen, was bislang nur dem Staat in Ausnahmefällen vorbehalten war: sie können enteignen. Was das im einzelnen bedeutet, mag folgendes Gedankenexperiment illustrieren: gesetzt den nicht ganz unwahrscheinlichen Fall, der Hersteller einer koffeinhaltigen Brause käme auf die Idee, eine seiner Fabriken beispielsweise in einer Schrebergartenanlage hochzuziehen, so könnte demnächst die Firma alle Betroffenen - unter Umgehung von viel lästigem Papierkram -  enteignen. Sie braucht nicht einmal mehr die Gerichte zu bemühen, sondern kann praktischerweise gleich die Planierraupe schicken. Das Schöne an dieser (geplanten) Neuregelung ist nämlich, dass die Konzerne auch noch eine ganze Menge Geld sparen, denn die Abstandssummen liegen natürlich weit unter den Marktpreisen. Da sie ohnehin am längeren Hebel sitzen, ist ja schließlich auch nicht einzusehen, warum sie einen gerechten Preis zahlen sollten. Gerechtigkeit ist eh bloß etwas für Weicheier. (“Justice is for sissies”, heißt es inzwischen denn auch in einschlägigen Kreisen - kann man sich etwas Zynischeres denken als diesen Satz?  )
 Als sei das alles noch nicht schlimm genug, haben sich ein paar ganz gerissene Strategen überdies ein halbes Dutzend angeblich völkerverbindender Handelsabkommen wie TTIP & Co.ausgedacht, damit sie auch die Europäer, denen es ohnehin zu gut geht, so richtig ausnehmen können. TTIP - das brauche ich sicher keinem meiner Leser weiter zu verdolmetschen - TTIP beschränkt sich ja nicht darauf, den europäischen  Markt mit seinen in Sagrotan marinierten Flattermännern (alias Chlorhühnchen) zu sättigen. Auch das wäre nicht weiter schlimm. Denn wenn wir die zweifelhaften Viktualien, die sie uns andienen, nicht kaufen, werden sie irgendwann nicht mehr produziert - in dieser Hinsicht ist auf den Markt durchaus Verlass. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass die Franzosen ( die schon seit Ludwig XI. ein verbrieftes Recht auf ein sonntägliches Huhn im Topf haben) sich jetzt ein neues Rezept für Chlorhühnchen au vin ausdenken. Nein, das Problem sind nicht diese Broiler.  Das Problem - damit teile ich wohl niemandem etwas Neues mit - sind die geplanten Schiedsgerichte, die dafür sorgen, dass ihre Investoren “entschädigt” werden, sollten sie aus irgendeinem Grunde nicht zum Zuge kommen - indem eine uneinsichtige Urbevölkerung sich zum Beispiel dagegen auflehnt, eine Champignonzuchtanlage vor die Nase gesetzt zu bekommen. Oder ein Gen-Maisfeld “für” noch größere Popkörner.
Vor allem diese Entschädigungs-Nummer ist so aberwitzig, dass anständige Menschen sich fragen, wie man auf so etwas überhaupt bloß kommen kann! Verkehrte Welt, sagt man sich: das ist in etwa so, als gälte es jetzt als durchaus akzeptabel, seine Nachbarn auf Entschädigung zu verklagen, wenn sie etwas dagegen haben, dass man nachts um halb drei Marschmusik hört, bis der Putz von der Wand fällt. Oder Posaune übt.
Ich persönlich könnte schon mit meiner Blockflöte alle anderen damit in den Wahnsinn treiben. Meine lieben Eltern - Gott hab sie selig - und meine sonst tendenziell freundlichen Geschwister würden das jederzeit gerne bestätigen. Nach der Logik dieser Investorenschutzgesetze könnte ich aber, nachdem mich meine Nachbarn eventuell sogar unter Androhung von Prügel an der Ausübung meiner Kunst gehindert haben, am nächsten Morgen zu einem dieser (übrigens nicht einmal aus Juristen bestehenden!)  Schiedsgerichte gehen und eine Entschädigung in Höhe von X einfordern. Und ich bekäme auch noch Recht! In den Betrag X hätte ich natürlich vorsorglich auch noch das zu erwartende Lebensglück mit eingerechnet, das mir meine Blockflöte beschert hätte, wenn man mir sie nicht weggenommen hätte.  Ich könnte sogar die entgangenen Tantiemen noch mit einklagen, die mir meine musikalischen Darbietungen vielleicht eines Tages eingebracht hätten, samt Zins und Zinseszins. Aus derartigen Faktoren setzt sich nämlich der Betrag X zusammen, um die es bei diesem Entschädigungssummen geht. Eigentlich darf man gar nicht so genau darüber nachdenken. Mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel bekommt hin und wieder spontanes Nasenbluten, wenn er sich wieder einmal über TTIP & Co. aufregt. Zumal er weiß: TTIP ist weder der erste noch der letzte Versuch der Global Player, die Idee der Sozialen Marktwirtschaft völlig auszuhebeln und sie durch bracchiales Konkurrenzverhalten zu ersetzen. Das nächste TTIP kommt bestimmt! Das sei schon jetzt so sicher wie das Amen in der Kirche, sagt er.  “In den Traumfabriken jenseits des Atlantiks”, berichtete er mir unlängst, “ ist man man inzwischen dabei, das nächste Trojanische Pferd zusammenzuzimmern, mit dem sie uns beschenken wollen. Die neue Version, Troja 9.0, heißt dann vielleicht ein wenig anders, aber es ist dasselbe, nur anders verpackt. Fury wäre ganz nett , für “frigging unrefined yuppies“ zum Beispiel.  Wie sagte Laokoon einst in Vergils Aeneis?  `Timeo danaos et donas ferentes.´  Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen (Aeneis, II,49)” Mein geschätzter Kollege liest nämlich, wie bereits eingangs erwähnt, auch sämtliche Klassiker im Original und viele davon kann er seitenweise rezitieren wie wir unsereins den Struwwelpeter oder die Häschenschule. Er ist ein eben grundgescheites Haus und doch muss ich ihn manchmal von der Decke holen, wenn er wieder mal in die Luft gegangen ist vor lauter Empörung über die mutwillige Zerstörung der Welt von gestern.    
Denn selbst wenn wir TTIP, Ceta & Co. ( für die irritierenderweise sogar allgemein geschätzte Politiker werben)  nicht kommen sollten - aus dem Schneider sind wir damit noch lange nicht! Leider! Vor allem nicht nach dem Brexit. Jetzt wollen´s die Brüssler ganz ohne uns durchziehen.
In Brüssel  sind ein paar von Lobbyisten belagerte Leutchen ohnehin schon länger dabei,  klammheimlich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit Rechte abzuschaffen, für die unsere Eltern auf die Straße gegangen sind. Das kriegen wir hier gar nicht so mit. Ich behaupte wohlgemerkt nicht, dass unsere Europapolitiker korrupt sind, auch wenn die Spesenkonten dieser Lobbyisten (die sich als Berater ausgeben) auf die eine oder andere Art von Vorteilsnahme schließen lassen. Inzwischen gibt es Gott sei Dank eine Reihe von Lobby-Control-Foren, die auch dringend nötig sind: in Brüssel hängen nämlich nach Schätzungen dreimal so viele Lobbyisten von internationalen Konzernen herum, wie es dort Politiker gibt. Diese „Politiker“,  das sei hier noch ergänzend hinzugefügt, haben  wir wohlgemerkt niemals direkt gewählt. Sie haben kein Programm und kein Gesicht. Nach Brüssel wurden sie aus unseren Parlamenten wohl nur entsandt,  weil sie in Paris oder in Berlin so keiner richtig lieb hat oder weil ihre Zahnhygiene zu wünschen übrig lässt. Dieser Vorgang nennt sich Wegloben: zum Trost kriegen die Burschen dann ein paar, nicht eben knapp bemessene Pfründe, mit denen sie sich jeden Abend ein T-Bone-Steak genehmigen können - wenn Sie sich diese Fleischfressergesichter ankucken, könnten Sie das auch ganz genau sehen. Aber ach, ich lasse mich gerade etwas hinreißen von meiner Verzweiflung über den Zustand des Globus…verzeihen Sie mir! Ich habe gestern schlecht geschlafen, weil ich sehr Beunruhigendes über die neuerliche Bedrohung der Buchpreisbindung (durch die Brüssler) gelesen habe. Das macht mich immer ganz kirre. Denn wenn sie fällt, wird überall in Europa das Licht ausgehen.

Halten wir nur eines fest: das Europäische Parlament verfügt, wie man seit langem weiß, über ein erhebliches Demokratiedefizit.  Warum ändern wir dann aber nichts an dieser Pseudodemokratie, die gleichwohl ständig mit lebensverändernden  Gesetzen daherkommt und  die vor allem diese Wettbewerbsverzerrungen verhindern will?  Was meinen sie eigentlich damit? Wettbewerbsverzerrung:  klingt ja eigentlich nach etwas, das man durchaus abstellen muss, damit alle eine faire Chance haben mitzumachen und das wollen wir doch eigentlich alle, oder nicht?
Tatsache ist aber, dass das schlau gewählte Wort etwas als unfair brandmarkt, das durchaus Sinn ergibt:  wenn der Staat seine schützende Hand über irgendwelche notleidenden Branchen legt oder auch bloß neue, kreative Ideen fördert - dann ist das schon eine (angebliche) Wettbewerbsverzerrung!  Denn eine direkt oder indirekt subventionierte Branche schmälert ja die Gewinne der Investoren, die es zu schützen gilt… Die Füchse betrachten den Zaun, den der Bauer um seine Stallhasen bzw. um sein liebes Federvieh  herum baut, natürlich auch als Wettbewerbsverzerrung. Klar. Weswegen sich die Füchse jetzt auch organisiert haben und den Bauer dazu zwingen, den regulierenden Zaun gefälligst wieder abzubauen. Und wenn er nicht spurt, kommt er vors Standgericht, pardon Schiedsgericht.   

32    „Du kannst ohnehin nichts ändern“ , würde es auf Hochdeutsch heißen, aber das ist natürlich bei weitem nicht so schön wie dieser Satz.
 
33 Ein Satz, den man zum Beispiel  ständig fotografiert hat, ist Marie von Ebner-Eschenbachs (1830- 1916)  scharfsinnige Beobachtung „Der Klügere gibt nach - dieser Satz begründet die Weltherrschaft der Dummen.“  Wir haben ein paar der  wichtigsten Zitate inzwischen fotokopiert: die Papierstapel versehen wir mit einem Loch und einem Stück Bindfaden, sodass sich jeder, der mag,  nur eines abzureißen braucht. So kann er es schwarz auf weiß getrost nach Hause tragen.      
 
34  Besagter Versender hat unlängst auch das wunderbare ZVAB, das ehrwürdige Zentralantiquariat des Buchhandels gekauft, und das ist schon eine ziemliche Katastrophe, weil keiner unserer Kollegen weiß, woher man als anständiger Mensch jetzt die vergriffenen Bücher besorgen soll.   

35  Was wir natürlich gern genehmigen! Inzwischen haben wir so etwas eine Generalvollmacht dazu gehängt, die allen erlaubt, nach Herzenslust alles zu knipsen, worauf sie Lust haben. Ein besonders beliebtes Fotomotiv ist ein Hinweis, der im ersten Stock an der Kaffeemaschine hängt: “Falls Sie Zweifel haben sollten, Kaffee und Tee sind wirklich kostenlos! Bedienen Sie sich nach Herzenslust!  Wenn Sie eine Tasse trinken, sparen Sie also gut und gern einen Euro fünfzig. Wenn Sie zwanzig Tassen schaffen, sind´ s nach Adam Riese  schon dreißig Euro, die Sie dann gewinnbringend in Bücher investieren können. ”  Mit derlei Texten bezaubert man vor allem schwäbische Herzen! Ein anständiger Schwabe nutzt derlei Aufforderungen nebenbei bemerkt nie aus, ebenso wenig wie all seine anderen alemannischen Nachbarn.  Aber er freut sich darüber, wenn sein tendenziell eher kritisches Weltbild von Menschen korrigiert werden, die sich redlich um ihn  bemühen und stets kulant bleiben. Echte Alemannen sind treu wie Gold. Und von einer Großherzigkeit, die sämtliche Vorurteile Lügen straft.
     
36  Es war damals die in der folgenden  Fußnote näher beschriebene  Sophien-Ausgabe, die dem Regal den Rest gab.
 
37 Prinzessin Wilhelmina Sophie Marie-Luise von Hessen-Nassau (1824-1897) war eine holländische Prinzessin, die durch die Heirat mit ihrem klugen Cousin Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach (1818-1901) nach Weimar kam.   Sophie widmete sich nicht nur Dutzenden von sozialen Aufgaben. So engagierte sie sich zum Beispiel für die Einrichtung von Mädchenschulen und die Ausbildung von Krankenpflegerinnen.  Sie war überdies von Walter von Goethe als Alleinerbin des schriftlichen Nachlasses seines Vaters eingesetzt worden und übernahm die Arbeit  mit demselben Pflichtbewusstsein wie alles andere auch. 1865 entstand auf ihre Anregung hin nicht nur die Goethe-Gesellschaft. Sie initiierte auch die erste kritische, 143 Seiten umfassende Gesamtausgabe der veröffentlichten Werke Goethes im Böhlau-Verlag. Der München dtv Verlag brachte Ende der Neunziger Jahre ein  Halbfacsimile dieser Sophien-Ausgabe heraus, die theoretisch zwar vergriffen, praktisch aber schon noch zu haben ist. Wir Buchhändler haben da immer unsere Tricks.   Mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel kann Ihnen darüber gern Auskunft geben.      

38 Heute wacht ein anderer Engel über das Herz meiner Buchhandlung. Er stammt aus einem alten Pfarrhaus hier am See und dürfte gut und gern zweihundertfünfzig Jahre alt sein, das heißt, er hat in seinem Leben schon so einiges gesehen. Vielleicht ist ja das der Grund dafür, dass er stets so gelassen bleibt. Mir fällt das immer noch schwer. Aber ich bin ja auch kein Engel.
 
39     Die Idee für einen solchen Versand kam mir übrigens unlängst, als ich mit ein paar besonders kritischen Denkern über die sogenannte Tobin- oder Börsenumsatzsteuer diskutierte. Kluge Köpfe fragen sich schon länger, wieso selbst noch in dem “Fuchzgerl”, das man für jede verflixte Klotüre im öffentlichen Raum braucht, mindestens neunzehn Prozent Steuern stecken, während die Börse vierundzwanzig Stunden pro Tag so gut wie steuerfrei
absahnen darf.  Wer thematisiert das? Keiner!  
Wahrscheinlich fürchten unsere armen Politiker, dass man ihnen den Mund mit Seife auswäscht, wenn sie das böse Wort auch nur erwähnen. Börsenumsatzsteuer, huh! Das hat fast das revolutionäre Potential der Marsellaise!
Vielleicht sollten wir überhaupt  mal die Franzosen vorschicken, um da ein wenig Dampf zu machen. Die Deutschen kriegen das nicht so leicht hin, denn ihnen fehlt bekanntlich das Auf-die-Barrikaden-Gen.
Es hilft also alles nichts.  Zurzeit sieht alles danach aus, als ob wir weiter geschröpft werden, während die global players mit ihren Sportsfreunden von uns auch noch direkt und indirekt subventioniert werden und fröhlich weitermachen wie zuvor. Was soll ihnen auch passieren. Der Steuerzahler wird sie schon wieder raushauen, wenn sie wieder einmal in der Klemme sitzen. Allein schon darüber könnte, wer genau darüber nachdenkt, den Glauben an die Menschheit verlieren.  Weswegen man alles Nachdenken hin und wieder auch ganz sein lassen sollte.
Wo sind sie nur, die Querdenker und  die Macher, die die oftmals verblüffend einfachen  Lösungen vorschlagen? “Sollten wir es nicht doch mal mit faulen Eiern oder Tomaten versuchen?”, fragte einer der Teilnehmer unserer Runde bei dieser Gelegenheit.  “Das wäre durchaus eine Option, die ihre Wirkung nicht verfehlen würde”.
Ich gab daraufhin zu bedenken, dass es inzwischen gar nicht mehr so einfach ist, faule Tomaten zu besorgen, seit die Dinger einfach nicht mehr faul werden. Da kann man sich auf den Kopf stellen! Sie sind inzwischen gentechnisch so umgemodelt, dass sie fast schon die Halbwertszeit von Uran haben. Für revolutionäre Zwecke sind sie jedenfalls nur noch eingeschränkt verwendbar und das ist ein echtes Manko.
So kam es, dass wir aus einer Laune heraus einen Business-Plan für besagten Revolutionsbedarfsversand entwickelten. Nennen Sie es eine Schnapsidee, aber es ist  eine durchaus brauchbare. Und jeder, der sich ein wenig in Geschichte auskennt, wird Ihnen gern bestätigen, dass die besten Ideen oftmals ihre Karriere als Schnapsideen angefangen haben, vorzugsweise in feucht-fröhlicher Runde.
Die Sache mit den Tomaten ließ mir übrigens keine Ruhe. Nach ein wenig Gegoogle kam ich denn auch darauf, dass durchaus schöne faule Tomaten erhält, wer das beliebte Nachtschattengewächs ein paar Tage lang in einer Plastiktüte auf eine sonnige Fensterbank legt. Ich habe dann noch ein wenig weiter recherchiert und auch ein paar historische Revolutionstechniken ausgebuddelt, die sich durchaus auch heute noch anwenden lassen. So kann man zum Beispiel auch mit gutem altem Pferdemist durchaus Eindruck machen und vielleicht sogar die gewünschten Ergebnisse erzielen.  Das Stoffwechselprodukt der lieben Tiere eignet sich nämlich durchaus nicht nur zum Düngen von Erdbeeren. Es gibt auch  wunderbare, etwa dampfnudelgroße Wurfgeschosse ab. Gut abgelagerter Pferdemist stinkt übrigens nicht, sondern duftet eher heimelig nach Stall. Wenn Sie allerdings den Anzug  eines antisozialen Nadelstreifenträgers nachhaltig ruinieren wollen, brauchen Sie schon (zicke zacke) Hühnerkacke - auch das würde ich mir, hätte ich so einen Versand, irgendwie besorgen. Für die Aktivisten würde ich überdies gefriergetrocknete Brennnesseljauche anbieten, die braucht man bloß mit Wasser aufzugießen, woraufhin sie pestilenzialisch zu stinken anfängt. Dieses „uns stinkt´s“ kann ein echtes Statement sein, das manchem Bürgermeister durchaus zum Nachdenken einladen würde.
Sehr gut kommen auch Fische, die man mehr oder weniger frisch verwenden kann. Sie haben außerdem den Vorzug, dass sie sich in gefrorener oder getrockneter Form geruchsneutral aufbewahren lassen. Bei Bedarf hat man aber auch schnell mal einen leckeren Cocktail daraus gebraut. Auch macht sich ein  gefrorener Fisch gut im Briefkasten eines fiesen Möpps, während der gerade auf Kosten des Steuerzahlers in der Weltgeschichte unterwegs ist. Wenn man das richtig timet,  hat er, sobald er wiederkommt, echte Freude.  
Findige Köpfe  kommen, wenn sie´s drauf anlegen, überhaupt auf Tausende von netten (wohlgemerkt!), aber pädagogisch durchaus  wertvollen Einfällen, bei denen man gern auch etwas rezenter duftende Käsesorten einsetzen könnte. Aber auch für Hundetütchen und deren Inhalt gibt es sehr kreative, witzige Anwendungsmöglichkeiten. Sie eignen sich bestens für das, was die Soziologen als altruistische Bestrafung bezeichnen. Gemeint ist damit eine leicht übergriffige,  aber durchaus legitime Lektion, die die Guten denen beibringen, die ´s übertreiben. Aber das alles sei hier nur so am Rande notiert, für den Fall, dass Ihnen mal die Hutschnur platzt oder das Kragenknöpfchen.
Es gibt sehr originelle, sehr pfiffige und eigentlich harmlose Lösungen, mit denen man aber durchaus ein paar korrupten Entscheidungsträgern zeigen könnte, „was eine Harke ist“ - der Wendung sieht man noch heute leicht an, woher sie kommt,  aus der Zeit der Bauernkriege nämlich, wo man seiner Herrschaft mit improvisierten Waffen ( Dreschflegeln, Harken, Spaten etc.) mal eben zeigte, „was eine Harke ist“.  Damit kann man schon den einen oder anderen Denkprozess in Gang setzen. Man sieht also: mit einfachsten Mitteln  ließe sich das Schlimmste verhindern. Und: man hätte die Lacher auf seiner Seite. So bekämen wir einen guten Teil der Korruption in den Griff. Ich sage bloß Zicke, zacke…..  Dem in einer anderen Fußnote erwähnten Toastbrothersteller, der sein Mehl mit lindanverseuchten Sägespänen verschnitten hatte, um Kosten zu sparen (!),  hat ein pfiffiger Bursche zum Beispiel einen schon richtig gut duftenden und bereits halbflüssigen Appenzeller Käse in den Hohlraum unter seinem Chefsessel geschmuggelt. Wer diesen Käse kennt, weiß, dass man nach so einer Aktion nur noch das Haus abreißen kann. Von wegen also: einer allein kann sowieso nichts machen. Hah! Und ob er was machen kann!  Wie schade, dass man sich als kultivierter Mensch vor lauter Toleranz an viele dieser Maßnahmen nicht so recht traut, dabei hätten wir damit die schlimmsten Auswüchse antisozialen Verhaltens gleich im Griff.  Als Revolutionsbedarfsversender würde ich natürlich auch eine Broschüre mit ein paar besonders schönen Vorschlägen anbieten. Wussten Sie übrigens, dass man in England The Top Hat Man engagieren  kann?  Dieser Top Hat Man trägt einen sehr auffälligen Zylinder, den namengebenden top hat nämlich, und er macht nichts weiter,  als vor der Tür eines Tricksters zu warten, der seine Handwerkerrechnungen zum Beispiel nicht bezahlt. Das wirkt wunderbar und auch sehr schnell. Damit könnte man  auch hierzulande jede Menge Arbeitsplätze schaffen! Und außerdem, davon bin ich überzeugt, würde man jede Menge Seelen retten. Denn wenn die Trickster (um die Bezeichnung eines Jung´schen Archetyps zu verwenden) lernen, dass es anstrengender ist, sich durchs Leben zu tricksen als aufrichtig zu sein, dann könnten wir als Gesellschaft diese Trickster vor sich selber schützen - vielleicht sind sie uns deswegen eines Tages sogar dankbar!  Die Schummelei  ist nämlich, wie wir bereits festgestellt haben, mit  jeder Menge miesem Karma verbunden, das tatsächlich kein leerer Wahn ist: Unehrlichkeit macht  auf die Dauer krank. Das eigene Gewissen schneidet dem Korrupten vorzeitig den Lebensfaden ab. Und das letzte Hemd hat ohnehin keine Taschen,  wie der Volksmund zu berichten weiß und auch hier hat er, wie eigentlich im
mer, recht. Kennen Sie übrigens die Geschichte von dem alten Geldsack, der in seinem Testament verfügte, mit seinem ganzen Geld begraben zu werden? Als das Thema beim Beerdigungskaffee angeschnitten wurde und man den klugen Sohn danach befragte, sagte der leichthin: „Oh, kein Problem, ich hab dem Alten einen Scheck reingelegt.“ So muss man ´s machen: die Trickster  ganz einfach austricksen. Wir sind ja auch nicht aus Dummsdorf.  Wir haben in Physik aufgepasst und in Chemie und querdenken können wir auch. Warum machen wir nicht überhaupt gleich  eine Website mit den besten Ideen? www.altruistische-bestrafung.org  oder so ähnlich, könnte diese Seite doch heißen.  Vielleicht holen dann ein paar Käpsele ihren alten Kosmos-Chemie-Baukasten vom Dachboden? Doch lassen wir´s damit gut sein. Diese sehr aufmüpfige Fußnote ist ohnehin schon viel länger geworden, als sie eigentlich sein sollte: sie ist ein Vorgeschmack auf den Band zwei dieses Buches, das ca. tausend höchst praktische Ideen bietet, wie diese Welt zu verbessern ist. Schicken Sie uns gern Ihre eigenen zu  - mich würd´s freuen.
 
40   Obwohl ich das mit der Glasscheibe jetzt mal so hin improvisiert habe. Ich müsste das  noch mal recherchieren, so mich jemand jetzt auf diese Glasscheibe festnageln wollte.

41 Ich selber habe, was ich erforderlichenfalls gern nachweise, meine eigene Krankenversicherung in den letzten zwölf Jahren nicht einen Cent gekostet. Wenn ich einen Arzt brauche, weil ich mir wieder mal das Kreuz verrissen habe, gehe ich zu meinem genialen Dr.Dobler in die Ludwigstrasse, der mich wieder aufrichtet. Er ist der beste Arzt, der sich nur vorstellen lässt: immer gutgelaunt, immer empathisch - und so scharfsinnig wie Sherlock Holmes: er hat aus einer Intuition  heraus noch immer den Kern der Sache getroffen. Er trödelt auch nicht in der Apparatemedizin herum, sondern probiert´s erst mal mit Homöopathie, obwohl er alles Allopathische genauso drauf hat.  Ich  übernehme die Honorare gern : seit Jahren  bin ich toi, toi, toi, nicht über meinen jährlichen Selbstbehalt bei der Versicherung  hinausgekommen.
 
42 Letzteres erklärt sich sicher dadurch, dass sie für ausgedehnte Sonnenbäder keine Zeit haben.
 
43 Ich hätte übrigens nichts dagegen,  wenigstens einmal zu diesen Ausreißern zu gehören!

44 Das heißt: für ein Buch, das im Handel zehn Euro kostet, zahlen wir im Schnitt also etwas über sieben Euro. In so gut wie jeder anderen Branche - mit Ausnahme von Lebensmitteln vielleicht noch - wird bei  einem Wareneinsatz von ca. sieben Euro ein Verkaufswert von  knapp achtzehn (!) Euro incl. Märchensteuer erzielt. Ich verrate damit kein großes Geheimnis. So ist es nun mal.
 
45  Ebenso wie diese höchst praktischen Aufsteller, die inzwischen viele Verlage anbieten:  bei Ars Edition zum Beispiel oder Pattloch, Coppenrath, Brunnen etc. Sie bieten  für jeden Tag ein inspirierendes Zitat mit einem schönen Bild. Wenn man sich so etwas auf den Schreibtisch stellt,  kann man leicht den schlimmsten Unbilden des Alltags trotzen. Man braucht nur über ein Zitat von Hesse zum Beispiel zu meditieren, oder besser noch eines von Busch - und schon  kann uns der Stress nicht mehr allzu viel anhaben. Resiliente Menschen wissen das schon lange. Und trotzdem fragt man sich: warum gibt es eigentlich nur diese literarischen Trostpflaster? Gibt es keine echten guten Nachrichten über gute Menschen, die Gutes tun? Da soll doch einer!

46   Wenn ich schon die Bezeichnung Investorenschutzgesetze für diese aggressive Bande höre!  Sie tut so, als gehöre sie zu einer schützenswerten Minderheit. Zu einer verfolgten und inzwischen vom Aussterben bedrohten Art, denen die übrigen Marktteilnehmer ständig ans Leder wollen.  Marktteilnehmer - das ist übrigens auch so ein Wort. Mein Gott! In den Geistesprodukten mehr oder weniger studierter Ökonomen hat es inzwischen den vormals gebräuchlichen Bürger zu ersetzen begonnen. Seit der Markt jeden, aber auch wirklich jeden  Lebensbereich durchdringt ( selbst diejenigen, in denen er absolut nichts zu suchen hat),  werden wir nur noch in unserer Rolle als Käufer und Verkäufer von Waren und Dienstleistungen gesehen. Der mit dem Marktteilnehmer verwandte Konsument ( Cousin ersten Grades) ist ein wenig auf dem Rückzug, weil er von Wachstumskritikern zu Recht Dresche gekriegt hat. Deswegen wird er  in politischem Kontext inzwischen gemieden. Der Marktteilnehmer ist hingegen  auch in erlesener Runde salonfähig, in Expertenrunden vor allem. Damit entfällt endlich mal das ewige, politisch ach so korrekte Rumgeeier mit Bürgern und Menschen ( „Die Menschen in unserem Land“). Auch das Volk kommt jetzt nur noch in Volkskornbrot vor, wo es  aber auch ganz  gut aufgehoben ist. Damit wäre sogar der sperrige  Migrationshintergrund, der vor allem Trägern älterer Zahnprothesen Probleme gemacht hat, auch endlich vom Tisch. Wir wollten mehr Gerechtigkeit - jetzt haben wir sie! Jetzt sind wir alle (von der Wiege bis zur Bahre) nur noch Marktteilnehmer! Vom Kindergartenkind bis zum Altersheimbewohner. Die einzige Ausnahme bleiben allerdings die Knastologen, obwohl den Burschen, die sich all die schönen neuen Wörter ausdenken, da sicher  auch noch etwas Passendes einfällt. Alle PC (Abkürzung für Political Correctness) ist hier allerdings eine echte Herausforderung. Wie soll man die schweren Jungs ( und gerechterweise auch Mädels ) in offiziellen Verlautbarungen oder auch  in den Knastzeitungen anreden? Liebe Verbrecherinnen und Verbrecher? Einbrecherinnen und Einbrecher? Oder doch eher: Liebe Knastbrüder und - schwestern  im Geiste? Das ist, wie man sieht,  gar nicht so einfach und auch für  einen gelernten Linguisten nicht eben leicht. Er weiß, dass  die öffentliche Meinung (oder besser gesagt die veröffentlichte Meinung) mit relativ einfachen sprachlichen Mitteln in genau die Richtung gesteuert wird, die man will. Wer die Macht über die Worte hat, hat die Macht über uns.   

 
47    ….und die - unter uns - die ganze Drecksarbeit machen! Mir tun unsere Volksvertreter wirklich leid. Solange sie eine marktgerechte Demokratie anstreben, statt eines demokratiegerechten Marktes wird sich daran auch nichts ändern.

48 Eine Kollegin, die einst über Leibniz promoviert hat, berichtete mir von einem ziemlich unterirdischen Rendezvous  mit einer Internetbekanntschaft:  der smarte Banker, der sie angeschrieben hatte,  hielt Leibniz ganz offensichtlich für einen Butterkeks und dozierte daraufhin eine geschlagene Stunde  über die „Philosophie“ dieser Traditionsfirma, in der er zufällig einmal gearbeitet hatte.  „Nur echt mit zweiundfünfzig Zähnen!“ prostete er schließlich grinsend und Annette wusste: sie ist wieder mal im falschen Film. Nach fast fünfzig blind dates - über die sie die haarsträubendsten Geschichten zu erzählen weiß - hat sie die Suche unlängst entnervt aufgegeben. Doch inzwischen ist sie - ganz analog - bei uns im Kaffeehaus einem Mann begegnet, mit dem sie gerade auf Wolke sieben unterwegs ist.
 
49   Der „Erfinder“ der modernen Marktwirtschaft, der bereits obenerwähnte schottische Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith  trat 1776 mit seinen Hauptwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations - kurz auch vom „Wohlstand der Nationen“ hervor.   Damals gehörte die Nationalökonomie noch zur Philosophie. Erst während des zweiten Weltkriegs bastelte man sich einen wissenschaftlichen Überbau dazu, wahrscheinlich weil aus sich aus komplizierten Formeln, die kein Mensch versteht, immer eine subtile Form von Autorität ableiten lässt.  Auch die  Soziologie - einst ebenso eine Geisteswissenschaft wie die Ökonomie - entwickelte ihr Herrschaftswissen nach einem ganz ähnlichen Strickmuster  - und erfand ( u.a.) die Soziobiologie.  Der Ober-Soziobiologe ist übrigens Richard Dawkins, ein fanatischer Atheist, dem ich persönlich  lieber nicht im Dunkeln begegnen möchte. Huh.  Seinen misslaunigen wissenschaftlichen „Beweis“ , dass es Gott nicht gibt, stellt man als Buchhändler besser in die Gruselecke. Schreiberlinge wie Dawkins sind, ganz ehrlich, ein Grund mehr, um in die Kirche zu gehen.

50 Da wir schon bei Religion sind - finden Sie nicht auch, dass die in Politik und Wirtschaft weitverbreitete naive Marktgläubigkeit zuweilen ziemlich abstruse Formen annimmt?  So beobachtet  man allerorten die Befindlichkeit des Marktes, der heute „nervös“ ist, morgen aber schon wieder jovial auf seine Kinder herablächelt, wenn wir alles richtig machen. Die Parallelen zum vielzitierten Tanz ums Goldene Kalb dürften selbst Zeitgenossen auffallen, die es sonst nicht (oder nicht mehr) mit der Bibel haben.    
Das Goldene Kalb passt übrigens schon allein deswegen ziemlich gut hierher, weil es sprachgeschichtlich gesehen tatsächlich mit dem Markt ( sprich: der  Börse)  zusammenhängt. Wie das, werden Sie sich jetzt fragen, doch das ist schnell erklärt:  die niederländische, zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in Brügge residierende Kaufmannsfamilie Beurse alias Burse pflegte in ihrem Hause regelmäßige Zusammenkünfte abzuhalten, bei denen man bereits damals die Welt unter sich aufteilte - daraus wurden dann in fast allen europäischen Ländern besagte Börsen. Das Wappen der Familie Beurse zeigte übrigens drei Geldsäcke, die eigentlich alle hätten warnen können, zumal die Börse mit dem fast gleichlautenden altgriechischen Wort für Fell oder abgezogene Tierhaut verwandt ist, aus der unsere indoeuropäischen Vorfahren nicht nur ihre  „Buxen“, sondern eben auch ihre  Börsen machten (vgl.*bhuk = Bock, männliches Tier). Womit wir wieder bei den Rindviechern wären, denen man dafür zuvor das Fell abziehen muss….Wen wundert´s, dass auf keiner Art von Börse je Segen gelegen hat.  Die kann sich eigentlich nur der Teufel ausgedacht haben oder irgendein anderer Fleischfresser. Im Himmel gibt´s bloß Manna.

51 Diese „unsichtbare Hand“ - wir hatten das Thema bereits -  ist auch so ein Mythos. Sie geht auf den bereits mehrfach zitierten  Adam Smith zurück und gehört zum Credo marktliberalen Denkens. Angeblich ist sie hocheffizient. Und das mag in Bezug auf öffentliche Toilettenanlagen vielleicht stimmen. Denn seit sie  nicht mehr von der Öffentlichen Hand geschrubbt werden, sondern von der unsichtbaren, segenspendenden Hand des göttlichen Marktes, sind die Klos in diesem schönen Land wirklich etwas sauberer geworden. Und sie riechen auch besser, seit da einer alle naslang mit einer Sprühdose febreze rumrennt wie meine Brüder einst, in seligen Ministrantenzeiten,  mit dem Weihwasserkessel.  An diese Klos will ich also gar nicht tippen. Obwohl ich über die unsäglichen Schranken, die schon manchen an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben haben, hier schon noch so einiges hinimprovisieren könnte!
Was ich jedoch zu bedenken geben möchte, ist: besagte unsichtbare Hand macht nichts für Gottes Lohn. Und ein Staat, der selbst seine Grundversorgungspflichten abgibt,  indem  er alles „outsourct“, was sich angeblich nicht rechnet, sollte sich nicht wundern, wenn wir seine Steuersubjekte sich eines Tages fragen, weswegen wir dann überhaupt noch Steuern zahlen sollen, wenn wir sowieso alles selber zahlen müssen - vom „Fuchzgerl“ für die verflixte Klotür bis zum Eintrittsgeld für Nordseedünen, vom öffentlichen Nahverkehr bis hin zum Winterdienst, auf den er, wie sich gerade abzeichnet, jetzt überall pfeift. Die rapide angestiegene Zahl von Knochen- (und hier vor allem Oberschenkelhals-) brüchen nimmt er billigend in Kauf. Rein rechnerisch gesehen trägt ein Bruch (mit seinen Folgekosten) ja auch wieder zum Bruttosozialprodukt bei (ungelogen!).  Und eine Erhöhung dieses unseligen Bruttosozialprodukts ist alles, was unsere Volksvertreter und Vertreterinnen zu interessieren scheint, was mich zu der freilich etwas aufmüpfigen Überlegung veranlasst, warum wir von jedem, der in die Politik geht, nicht solide, von wirklich unabhängigen Denkern vermittelte ökonomische und staatsphilosophische Kenntnisse verlangen. Statt dieses Halbwissens, das man offensichtlich für ausreichend erachtet.    
   
52    darin ist das lateinische mobile vulgus, für die „wankelmütige Masse“  (vergl.auch engl.mob) gerade noch erkennbar.
 
53  Ich würde Sie übrigens auch nie anlügen!
 
54   Die wunderbaren Details aus dem Leben und Ableben des alten Bentham habe ich übrigens aus einen ziemlich genialen Buch: Philipp Roscoe´s  Rechnet sich das? (München: Hanser 2014), in dem der Autor seine Leser mit sehr pikanten Informationen aus der nicht eben ruhmreichen  Geschichte des Neoliberalismus überrascht. Es gibt da auch noch ein paar andere Architekten dieses seltsamen Gedankengebäudes, die Chicago Boys zum Beispiel, die mit südamerikanischen Militärjuntas unter einer Decke steckten - um ein Spielfeld für ihre wirtschaftspolitischen Ideen zu bekommen.  Dass damals  immer mehr Oppositionelle spurlos verschwanden, schien sie nicht sonderlich zu stören: so etwas wird ja gern unter Kollateralschäden verbucht… Über die geistigen Väter des Neoliberalismus kann man also durchaus geteilter Meinung sein. Helden waren es jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil. Wenn wir heute ihre Ideen immer noch praktisch unverändert umsetzen, ist das in etwa so, als würden wir den menschenverachtenden Ein- und Ausfällen eines Josef Stalin zum Beispiel immer noch gesellschaftspolitischen Einfluss gewähren. Darüber würde keiner auch nur nachdenken. Die Chicago Boys aber bestimmen nach wie vor unser aller Leben - und die inzwischen fast unerträgliche Stress-Menge, unter der wir zu leiden haben.
 
55   Ich denke mir diese Informationen übrigens nicht aus oder improvisiere sie nur so dahin. Es gibt inzwischen - Gott sei Dank - sehr viele engagierte Autoren, die uns darüber in Kenntnis setzen, was wirklich hinter den Kulissen abläuft. Die beeindruckendste Neuerscheinung zu diesem Thema dürfte zweifellos das bereits im Zusammenhang mit Sven S. erwähnte Buch von  Colin Crouch sein: Die Bezifferte Welt, die im Sommer 2015 bei Suhrkamp erschien. Im Vergleich zu der britischen Realität, die der Autor sehr eindrücklich beschreibt, geht´s uns hier  ja noch Gold! Und doch zeigt das Buch, was uns hier auch bald blühen wird, wenn wir die Neoliberalen nicht langsam in ihre Schranken weisen.  In Großbritannien ist der Abbau des Sozialstaates bereits weitaus stärker fortgeschritten als hierzulande, but we are gettin ´there too: wir sind auch auf dem schönsten Wege dahin.  Angeblich können wir uns diesen Sozialstaat ja nicht mehr leisten - weswegen sich jetzt alles auf dem freien Markt versichern soll. In wessen Interesse diese Maßnahme liegt, ist also in etwa so klar wie Kloßbrühe.  Einst, zu Zeiten unseres genialen Kanzlers Helmut Schmidt, hatten wir ein ziemlich perfektes Krankenversicherungs- und Rentensystem und plötzlich sollen wir alle selber sehen, wo wir bleiben und schön windige Anlageprodukte kaufen, die dann in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen alle den Bach runtergehen: das ist das, was man in Bankerkreisen unter “Umverteilung” versteht.  Das ist soweit nichts Neues. Wer nicht nur liest, was in der Zeitung steht, sondern auch ein Gespür hat für das, was zwischen den Zeilen steht, weiß schon lange um diese Zusammenhänge.  Er weiß auch, was er von TTIP zu halten  hat.  Mit der Ratifizierung des Abkommens wird unter vielen angeblichen Handelshemmnissen auch die Buchpreisbindung fallen, das ist schon jetzt ziemlich sicher, auch wenn ein paar kluge Köpfe in den Kultusministerien darum bitten, dass zum Erhalt der einzigartigen  kulturellen Vielfalt in Europa alle Printmedien vom TTIP ausgenommen werden sollten. Nur frage ich mich:  Warum in drei Teufels Namen bitten wir eigentlich um etwas, das wir diesen Erpressern glattweg abschlagen sollten? Wir, das Volk, sind der Souverän! Und Schluss! Keine weitere Diskussion. Diese Fritzen sind wie Hunde und Kinder, sie gehen genau so weit, wie wir sie lassen.  Was passieren wird, wenn die Buchpreisbindung fällt, mag ich mir gar nicht ausmalen. Ich fürchte, dann werfe sogar ich das Handtuch! Denn  dann gibt´s bald nur noch Schwarten zu kaufen, Softpornos  und vielleicht  noch etwas Esoterik für die eher seelenvolle Kundschaft,  alles natürlich gedruckt auf hässlichstem, Depressionen auslösendem Papier, an dem man sich auch leicht einen Splitter in die Hand ziehen kann. Und vielleicht sogar noch eine Blutvergiftung holen! Nicht auszudenken! Aber apropos Blut:  Bücher wie diese, die mit Herzblut geschrieben sind, gibt´s dann nur noch antiquarisch. Gott, wollen wir das wirklich?     

56   Der Chef des besagten Bankhauses machte im Krisenjahr 2008 mit einer auch stilistisch beeindruckenden rhetorischen Glanzleistung von sich reden, indem er in einem Interview behauptete: „Die Börse ist wie eine Lawine, mal geht sie rauf, mal geht sie runter.“ Fußballer haben nach verlorenen Spielen ganz ähnliche Sätze drauf:  “Zuerst haben wir kein Glück gehabt. Und dann kam auch noch das Pech hinzu.“ Wohl wahr.

57   Der Wahrheitsgehalt meiner  Geschichten ist zuweilen also nicht allzu hoch zu veranschlagen, aber direkt gelogen sind sie nun auch wieder nicht! Sie enthalten stets einen wahren Kern.  Sie haben eher etwas von einem Push-up-BH, der ja auch nicht unbedingt auf Tatsachen beruht, der aber das, was man hat, aufs schönste darstellt.
 
58   Klar, dass ich in diesem Buch die meisten Namen geändert und die Informationen so anonymisiert habe, dass auf niemanden ein schlechtes Licht fällt.
 
59   Parsnip ist übrigens die englische Bezeichnung für Pastinake, an eines dieser ähnlich lautenden Foren, in denen man sich seinen Partner runterladen kann, habe ich dabei ganz ehrlich nicht gedacht, jedenfalls nicht so direkt, obwohl es da ja das eine oder andere zu vermelden gäbe.  Für die Algorithmen, die diesen Handel mit der „Ware Liebe“ erst möglich gemacht haben,  hat nebenbei bemerkt der Spieltheoretiker Lloyd Shapley vor nicht allzu langer Zeit den Wirtschaftsnobelpreis bekommen, was ihm Tausende von Hochstaplern und Herzensbrechern, die sich jetzt im Netz tummeln,  sicher danken werden. Bitte verwechseln Sie also nicht meine unschuldigen parsnip-Pastinaken mit diesen Webseiten, die für sehr viel Leid, in Ausnahmefällen vielleicht auch ein wenig Glück gesorgt haben.  Die Parsnips erwähnte ich aus rein linguistischen Gründen. Sie gehören nämlich zu  den  Wörtern, die jeder, der auch nur Agatha Christie oder P.G.Wodehouse im Original liest,  irgendwann nachschlagen muss, ebenso wie drei bis fünf Ausdrücke, die man in der Schule nie lernt, die aber unter Garantie in jedem englischen Roman vorkommen: a) mantelpiece, b) scullery maid, c) groom, d) saucer, e) orchard  und f) conservatory a)Kaminverkleidung, b) Küchenmädchen c) Stallbursche, aber auch Bräutigam(?!)  d) Untertasse (!)  e) Obstgarten und f) Wintergarten, hätten Sie´s gedacht?  Warum es keinen englischen Roman gibt, in dem diese Wörter nicht vorkommen, darüber zerbreche mir schon seit Jahren den Kopf.  Ich lasse es Sie wissen, wenn ich mir eine schlüssige Begründung dafür zurechtgelegt habe.
 
60      Das hat man immer sehr schön bei Lady Thatcher beobachten können. Der Lady mit der Betonfrisur haben wir ohnehin einen nicht unbeträchtlichen Teil des ganzen Schlamassels zu verdanken. Dafür hat die Queen sie dann auch noch geadelt. Aber welchen Durchblick soll man auch haben, wenn man den ganzen Tag über in einem Palast sitzt und fernsieht?  Denn etwas anderes bleibt ihrer königlichen Hoheit, wie man hört, nicht übrig. Hat eben jeder sein Päckchen zu tragen.
Allein die Hüte, die die arme Queen immer aufsetzen muss! Diese Vogelnester, my goodness, die eher so aussehen, als gehörte sie in ein naturkundliches  Museum, Abteilung Vorgeschichte. Da ist die eigentlich ganz sympathische Lizzy nun gleich nach Frau Rowling die zweitreichste Frau der Welt, kann sich aber trotzdem die Deckel nicht aussuchen, mit denen sie dann in der Menge baden muss. Unlängst hatte sie ein Modell auf  in einem unbeschreiblichen fluoreszierenden  Grün, das man eher mit Marsbewohnern assoziiert, denn mit einem anständigen Royal. Bei dem Anblick sollen Kinder denn auch spontan in Tränen ausgebrochen sein. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat löst mit seiner todschicken Windstoßfrisur  übrigens gerade ganz ähnliche Reaktionen aus, wie man hört. Irgendwie erinnert er mich an Murschetz´Maulwurf, „der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat….“


61   Im Unterschied zum Rauhhaardackel, der seit der Rächtschreiprephorm nur noch Rauhaardackel geschrieben wird, durften der Rohgewinn ebenso wie die Rohkost und der Rohling ihr h behalten. Was ich nicht nur unlogisch, sondern auch sehr ungerecht finde, sackzement! Seither leidet der arme Rauhaardackel unter h-Ausfall, während die h-Mähne des Rohlings ungeschoren blieb. Vielleicht sind deswegen allenthalben so viel Rohlinge unterwegs, wer weiß. Ganz schlau haben es aber die Rauhnächte gemacht und die Geschichte gibt wirklich zu Hoffnung Anlass, weswegen ich hier schnell darüber berichten will.  Laut Rephorm sollten die Rauhnächte nämlich ihr h abgeben, die man ihnen ersatzlos gestrichen hatte.  Fürderhin sollten sie sich Raunächte nennen, ohne ihr Engels-h,  aber sie dachten gar nicht daran! So haben sie sich  zusammengetan und den Aufstand geprobt. Und siehe da - es geht! Fast zwei Jahrzehnte nach dieser unseligen und völlig  überflüssigen ABM-Maßnahme für arbeitslose Germanisten stehen auf den Buchtiteln zu dem Thema wieder die Rauhnächte - und keiner wagt, etwas dagegen zu tun, mit Ausnahme der Rechtschreibprogramme, die der schreibenden Zunft immer wieder dazwischenfunken. Aber inzwischen weiß man ja, wie man sie austrickst.  Die Rauhnächte beweisen jedenfalls: es lohnt sich durchaus, hin und wieder auf die Obrigkeit zu pfeifen. Weswegen sich hier jeder von den Rauhnächten mit h  eine Scheibe abschneiden kann, wenn er mag.       
 
62 Unlängst habe ich uns  eine Neuübersetzung von Fritz Reuters Ut mine Stromtid besorgt, achthundert Seiten Dünndruck. Klar, dass das nicht gerade der Verkaufsschlager wird hier am See, wo es nicht mal ein ordentliches Pumpernickel gibt, von anständigen Matjes ganz zu schweigen, weswegen ich auch manchmal ganz graugesichtig und elend aussehe. Denn ich bin hier  als Norddeutsche mit Migrationshintergrund sozusagen nur geduldet. Immerhin gibt es zuweilen Rode Grütt, Rote Grütze nämlich, ohne die kein  Norddeutscher im Ausland lange überleben kann. Die brauchen wir ebenso wie die Schwaben ihre Spätzle, die Wiener ihre Wiener Schnitzel, die Briten ihren Tee und die Koalabären ihre Eukalyptusblätter. Auch komme ich ohne meine tägliche Portion Honigkuchen nicht aus, sonst kann ich nicht mehr richtig denken. Das ist auch so etwas, wo einen hierzulande nur alles dumpf ansieht, so man ein diesbezügliches Begehren äußert. Gott sei Dank habe ich einen Bruder in Jever und einen anderen in Leer, die mich abwechselnd mit Care-Paketen versorgen, sonst hätte ich schon vor Jahren Antrag auf Repatriierung stellen müssen.  
 
63  Andere Leute zahlen für ein Stückchen Blutwurst an einer Himbeervinaigrette eine Schweinegeld, das ja auch nicht ganz zufällig so heißt.

64  Dieser entzückende Menüvorschlag stammt übriges, wie sollte es anders sein, aus der Feder Victor von Bülows, besser bekannt als Loriot.
 
65  Ich übertreibe natürlich, wie so oft. Klar! Die Nummer mit den Käserinden habe ich jetzt ein wenig hinimprovisiert. Und doch: Mit den im Buchhandel üblichen Spannen kann man über einen Traumurlaub in der Karibik, geschweige denn auf Fehmarn nicht einmal nachdenken.  Bei mir reicht´s seit vielen Jahren bloß für ein paar Tagesausflüge auf die Mainau und maximal  vierzehn Tage Jahresurlaub im Bayrischen Wald, einer Weltgegend also, die sich durch die weitgehende Abwesenheit steppender Bären auszeichnet.  Deswegen gehört  sie auch nicht unbedingt zu den bevorzugten Reisezielen von Teenagern. Dafür ist der Bayrische Wald aber herrlich ruhig und vor allem ältere Semester werden die einschläfernde Wirkung kluckernder Regenrinnen sehr zu schätzen wissen.  Außerdem befreien einen die allabendlich bereits gegen achtzehn Uhr hochgeklappten Bürgersteige von der Verpflichtung, jetzt unbedingt abends noch irgendwo hingehen zu müssen und sich zu amüsieren, weswegen vor allem Büchermenschen sich hier auf ungestörte, mußevolle Lesestunden freuen dürfen. Hinzukommt, dass man  im Bayrischen Wald noch einen Kaffee für einsfünfzig bekommt und die Kugel Eis für weniger als einen Euro, denn hier ist irgendwie die Zeit stehengeblieben. Daher möchte  ich jedem, der noch auf der Suche nach ein wenig heiler Welt ist, den ganzen Wald auch sehr ans Herz legen.

66  seit Maria Gräfin Maltzan  ihre Biographie unter diesem Titel herausbrachte, das heißt, lassen Sie mich mal eben kucken, seit 1988.

67  Zu diesem überraschenden Ergebnis ist der geniale Dan Ariely mit seinen Forschungsteams gekommen. Die Bücher dazu gibt es bei Droemer-Knaur und bei Goldmann und sie sind alle fabelhaft!  Ariely berichtet unter vielem anderen über Forschungsergebnisse, die eindeutig beweisen, dass Menschen, die sich  freiwillig und unentgeltlich zum Wohle einer Gemeinschaft engagieren, in dem Augenblick damit aufhören, da sie dafür Geld angeboten bekommen. Das heißt, man weiß genau, dass  die motivationstheoretischen Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaftler auf völlig falschen Annahmen beruhen. Aber glauben Sie ja nicht, dass die jetzt umgeschrieben werden!  Nein, man macht fröhlich weiter wie gehabt und trichtert jedem Erstsemester in jedem wirtschaftswissenschaftlichen Studiengang auch weiterhin ein: sämtliche Marktteilnehmer sind durch Egoismus charakterisiert, was man mit nicht-kooperativen Spielen der Spieltheorie denn auch gleich einübt.  Dass wir in erster Linie sozial denkende Wesen sind, dann aber gleichgeschaltet werden, weigert man  sich höherenorts zur Kenntnis zu nehmen. Soziales Handeln gilt in den Wirtschaftswissenschaften folgerichtig denn auch als irrational. Und irrationales ( sprich = soziales Denken ) gilt es natürlich zu vermeiden! Darüber sind sich auf den Teppichetagen alle einig, sonst kommt das ganze System durcheinander.  Arielys Buch Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen ( München:Droemer, 2015) ist ein Schritt in die richtige Richtung. Obwohl der (deutsche) Titel ein wenig irreführend ist - Ariely bricht hier eine Lanze für dieses vermeintlich irrationale Verhalten. Er gehört auch zu denen, die kritisch die bereits oben erwähnte  Lügentheorie des Mainstream untersuchen: in Unerklärlich ehrlich. Warum wir weniger lügen, als wir eigentlich könnten (ebenso München:Droemer,2015) weist er mit einer Reihe von sehr pfiffigen Experimenten nach, dass sie völliger Humbug ist. Das Beste an den verhaltensökonomischen Studien ist übrigens, dass sie von der Industrie bezahlt werden.  Die Industrie nimmt sie aber nicht zur Kenntnis. Ob sie´s  nicht kann oder bloß nicht will, darüber müsste man noch einmal meditieren. Ich neige sehr zu der Annahme, dass sie es mangels (Hirn-)Masse nicht auf die Reihe kriegt. Wie dem auch sei: Tatsache ist jedenfalls, dass sie völlig falsch liegt. Und täglich völlig falsche Entscheidungen trifft. Ich überlege Tag und Nacht, wie wir den Burschen das endlich mal stecken können. Haben Sie eine Idee?       

68   Vielleicht interessiert es Sie zu wissen, dass man im amerikanischen Patientenakten bereits jetzt zu erwartende Folgeerkrankungen mit Kennzahlen  versieht, damit sich besser rechnen lässt.
Der Tod liegt bei Null, was irgendwie noch nachvollziehbar ist.  Aber es gibt (halten Sie sich fest!) noch -1, in Worten minus eins! Sogar minus zwei. Minus eins bedeutet „schlimmer als tot“, womit nur schwer erträgliche Schmerzen ohne Hoffnung auf Besserung gemeint sind.
Wenn Sie jetzt ein gewisses Unbehagen verspüren, so lassen Sie sich sagen: Ihr Gefühl trügt Sie nicht. Doch warten Sie, es kommt noch viel, viel schlimmer.  Auch Depressionen werden mit minus eins angesetzt (!!!).  Sobald man also vom all-american Keep Smiling die Nase voll hat und etwas melancholisch wird, darf man in God´s Own Country inzwischen nicht mehr damit rechnen, etwas anders als Placebos zu bekommen. Und das ist eine Nachricht, die schon sehr zu denken gibt.  Ich verdanke auch diese Hinweise Adam Grants ziemlich genialem Buch Geben und Nehmen ( München: Droemer -Verlag, 2014).

69  Ist eine marktkonforme Demokratie nicht ein Widerspruch in sich? Ein Unding (alias Oxymoron, contradictio in adiecto) wie ein schwarzer Schimmel oder ein ehrlicher Anlageberater?

70  um wiederum einen Begriff von Nassim N.Taleb geprägten Begriff zu benutzen: in seinem Buch  Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse ( Knaus Albrecht, 2015) ist darüber mehr zu erfahren.  

71   Inzwischen gibt es Gott sei Dank eine Reihe von Lobby-Control-Foren, die auch dringend nötig sind: in Brüssel hängen - wir erwähnten es bereits - nach Schätzungen zwei- bis dreimal so viele von internationalen Konzernen entsandte Lobbyisten herum, wie es dort Politiker gibt, weswegen ein paar Querdenker inzwischen auch schon von Lobbykratie sprechen (bzw. auch von Kleptokratie, die ich für eine besonders gelungene Wortschöpfung halte).  
Dass das Europäische Parlament über ein erhebliches Demokratiedefizit verfügt, weiß man ja seit langem. Aber das ist natürlich kein Grund, etwas an dieser Pseudodemokratie zu ändern, die gleichwohl ständig mit lebensverändernden Gesetzen daherkommt.
Erinnern Sie sich daran, dass aus Brüssel je irgendeine Novelle gekommen wäre, die einen sozialen Mehrwert für uns bedeutet hätte? Ganz im Gegenteil! Die Brüssler sind gut, wenn ´s ums Zerstören geht. So subventioniert man nicht nur das Abholzen von ganzen Apfelbaumalleen, die ungenormte Früchte tragen, denn alles Ungenormte ist ohnehin tendenziell subversiv.  Deswegen haben die Brüssler auch,  das ist noch gar nicht so lange her, den Franzosen ihre einzigartige Käsevielfalt nehmen wollen. Sie waren drauf und dran, nur noch ein paar Sorten übrig zu lassen und alle anderen aus hygienischen Gründen zu verbieten. Aber da kennen diese Verwalterseelen halt die Franzosen schlecht! Die haben ihnen was gepfiffen und auch den einen oder anderen vergammelten Käse in Form von handlichen Wurfgeschossen  zum Einsatz gebracht und siehe da - heute kräht kein Hahn mehr nach der Gesetzesvorlage! Es geht also doch! Allegro con Brie!
Aus angeblich hygienischen Gründen versuchen die Brüssler übrigens auch  die Kuchen zu verbieten, die bei gemeinwohlorientierten Veranstaltungen seit Jahr und Tag angeboten werden und deren Erlös dabei hilft, die gute Sache zu finanzieren. Keine Kirchweih, kein Adventsbasar ist ohne die unermüdlichen Küchenfeen denkbar, die die wunderbarsten Buffets herzaubern, aber die haben die Normierer gerade jetzt auf dem Kieker. Vielleicht könnten wir mal extra ein paar Torten backen, eine entsprechende Zahl von Reisebussen mieten und einen fröhlichen Ausflug nach Brüssel unternehmen, wo wir die Jungs ordentlich mit ein paar Torten einseifen? Das hätte doch was! Die Idee ist, wenn ich´s recht bedenke, sogar so gut, dass man die Zutaten  dafür in den obenerwähnten Revolutionsbedarfsversand aufnehmen könnte. So könnte man zum Beispiel das vollsynthetische Buttercremepulver, das kein Mensch braucht, einer sinnvollen Verwendung zuführen. Das Ganze filmt man dann und stellt´s bei youtube rein. Von wegen, wir können nichts ändern!  Wir brauchen bloß damit aufzuhören, uns alles gefallen zu lassen! Die Achtundsechziger haben´s auch so gemacht.        

71  wie man hier in Bayern sagt, wo man nicht fluchen darf und deswegen das heilige Sakrament kurzerhand in Sackzement verwandelte. In weniger schlimmen Fällen heißt es sackelzement, oder auch zefix!, dessen kirchliche Herkunft noch deutlicher ist. All diese Begriffe sind durchaus salonfähig, sogar Pfarrer benutzen sie. Und hin und wieder tut so etwas auch gut.  Die feinsinnigen Menschen, denen dieses Buch gewidmet ist, mögen das vielleicht etwas anders sehen, aber zuweilen helfen uns die reichen Schätze unserer wunderbaren teutschen Frau Muttersprache,  um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. So hat´s Luther auch gemacht. Und sein Buch ist immer noch lieferbar.
 
72  Diese schöne Formulierung ist etwas über zwei Jahrtausende alt. Sie stammt von Epikur (341-270 v.Chr.), der die Kunst, ganz einfache und scheinbar paradoxe Fragen zu stellen, meisterlich beherrschte. Manchmal hilft es, ganz einfach die Prämissen zu bezweifeln. Jeder, der schon mal eine Gartenlaube gebaut hat, weiß, dass „das Fundament die Basis einer jeden Grundlage ist“.  Und wenn das nicht passt, kann aus dem Rest nichts werden, wenn unsere Größen in Politik und Wirtschaft uns immer wieder mit dem Bruttosozialprodukt als Maß aller Dinge kommen, dann müssten mal ein paar Statiker ran, unabhängige Wissenschaftler, die sich die Sache genau bekucken.
Hier ist vor allem der vietnamesische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang - der zurzeit in Oxford lehrt, zu empfehlen: seine  23 Things They Don´t Tell You About Capitalism gehören zu den Büchern, die sich man sich unters Kopfkissen legen könnte, wenn da nicht schon so viele andere lägen. Sehr empfohlen sei auch Günter Wierich:  Das kritische Finanzlexikon. München: Westend 2013, das seit kurzem vergriffen ist, aber man bekommt es schon noch.
Es ist absolut genial.
       
73   Wenn es eine Formulierung gibt, die den Linguisten in mir bis zur Weißglut reizt, dann ist es dieses unerträgliche „Abholen, wo man steht“, in dem sich die Arroganz einer völlig abgehobenen ökonomischen bzw. politischen Kaste spiegelt. Danke bestens, wir sind schon groß, können durchaus denken und sogar unseren Namen schon selber mit Tinte schreiben! Wir wissen außerdem, dass man die Nase nie so hoch tragen sollte, dass es einem (bei einem plötzlichen Wolkenbruch zum Beispiel) reinregnet!
   
74   Unter Verwendung diverser philosophischer Hämmer übrigens, über die bei Nietzsche mehr in Erfahrung zu bringen ist.
 
75   Alles außerirdischen Handelns übrigens auch!  Raumschiff Enterprise und Kollegen  liefern ja den unwiderlegbaren Beweis, dass sich auch auf anderen Planeten alles gegenseitig ans Leder will! An dieser Ideologie  hat gute fünfzig Jahre lang keiner ernsthafte Zweifel angemeldet. Selbst wenn wir etwas  Gutes tun, hieß es, indem wir  beispielsweise einem Bettler einen Fünfer in den Hut werfen, dann tun wir auch das im Grunde genommen nur aus egoistischen (!) Motiven heraus. So geistert die Fabel vom egoistischen Wohltäter  denn auch  durch die einschlägige Literatur. Sie geht auf das 1976 erschienene Buch The Selfish Gene - Das egoistische Gen des Soziologen  Richard Dawkins (*1941) zurück,  der von der Warte des „Soziobiologen“ herunter doziert (s.o), doch darf die Bezeichnung Biologie in dieser Forschungsrichtung  niemanden darüber hinwegtäuschen, dass Dawkins völlig unwissenschaftliche und eigentlich auch verantwortungslose Mutmaßungen produziert, wenn auch mit leider großer Breitenwirkung: seine Bücher sind Mainstream, das lässt sich nun nicht mehr ändern. Leider fand sein neurowissenschaftlich unhaltbares Mem ( als kleinste Einheit einer kollektiven Erinnerung) sogar Eingang ins Oxford Dictionary of English, worauf  sich Dawkins auch mächtig was zugute hält. Kluge Leute haben  inzwischen aber  nachweisen können, dass er sich die Tatsachen ein wenig zurechtlegt, damit sie besser zu seinen Vorurteilen passen.  Doch die Mär vom egoistischen Wohltäter wird weiter kolportiert.  Sogar in der Ratgeberliteratur empfehlen Autoren, denen das Zeilenhonorar offensichtlich keine Zeit zu tiefergehender Reflexion lässt, dass man ruhig mal was Gutes tun oder etwas spenden soll, weil man dann von „Glückshormonen überschwemmt wird und so sein Immunsystem stärkt.“ Wohltätigkeit wird also durchaus empfohlen, weil sie in etwa dieselbe gesundheitsfördernde Wirkung hat wie Vitamintabletten, Nordic Walking oder diese Omega-3-Schote, die ich schon nicht mehr hören kann.   Man sollte ja denken, dass auf solch verquere Ideen  nur Leute kommen können, die nicht alle Tassen im Schrank haben oder wenigstens ein Sandkastentrauma vorweisen können.  Dawkins & Co. streift offensichtlich  nicht einmal peripher der Gedanke, dass ebendiese Glückshormone gerade der Beweis dafür sind,  dass der Mensch auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz angelegt ist. Dawkins schafft es dennoch, unseren natürlichen Hang zu Empathie als Ausdruck unseres Egoismus zu interpretieren (weil wir ja an die leckeren Glücksbonbons wollen und nur deswegen nett sind und weil wir selbst und  unser hoffnungsfroher Nachwuchs indirekt von diesem Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip profitieren). Diese Argumentation ist entweder von unglaublicher Perfidie oder aber sagenhafter Dummheit charakterisiert, und ich neige mal zum einen, mal zum anderen Erklärungsmodell,  je nachdem, ob ich darüber vor oder nach dem Mittagessen  nachdenke ( nach dem Essen, wenn ich etwas milder gestimmt bin,  tendiere ich zu der zweiten Variante, die nicht ganz so schlimm ist.)  Der gute alte Charles Darwin würde wahrscheinlich im Grab rotieren, wüsste er, dass seine Epigonen, allen voran der seltsame Thomas Huxley ( 1825-1895), besser bekannt als Darwin´s bulldog, aus seinen Erklärungsmodellen sofort frühe Formen des später so genannten „Sozialdarwinismus“ zurechtbastelte. The survival of the fittest und der Kampf aller gegen alle erklärte aber auch zu schön, warum einige Völker andere kolonialisierten. Und warum sich  der rücksichtslose Herrenmensch fürderhin  keinen Gewissensbissen mehr auszusetzen brauchte. In aller Literatur zum Thema Soziale Intelligenz (  bzw. auch zu den hochinteressanten  Spiegelneuronen) wird übrigens mit  Dawkins & Co. abgerechnet. Vor allem der geniale Joachim Bauer geht mit seinen Buch Warum ich fühle, was du fühlst ( München: Goldmann 2011) mit der Soziobiologie ins Gericht. Es beweist, dass die als Fakt verkaufte Hypothese von der egoistischen Natur des Menschen eben nur ein Mythos ist, der ein paar Soziopathen und anderen Finsterlingen aber immer schon gut in den Kram gepasst hat.
     
76   …außer in den Hochsicherheitstrakten unserer Knastanlagen oder in einer schönen Gummizelle, wo diese Gestörten zu ihrer eigenen und unser aller Sicherheit auch besser aufgehoben sind.
 
77 /78     Das ist zweifellos auch der Grund dafür, dass der olle homo oeconomicus  vor einigen Jahren von ein paar wirklich klugen Köpfen so richtig ins Gebet genommen wurde. So kam es, dass er schon in der Abstellkammer der Wirtschaftstheorie verschwunden war,  wo er zweifellos auch irgendwann der wohlverdienten Vergessenheit anheimgefallen wäre.  Doch dann passierte etwas für alle Unerwartetes: im Herbst 2011 (!) erhielten nämlich zwei amerikanische Wirtschaftswissenschaftler den mit etwa einer Million Euro dotierten “Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“, kurz auch Wirtschaftsnobelpreis  genannt, den die Schwedische Reichsbank seit 1968 jedes Jahr vergibt. Christopher Sims und Thomas Sargent hatten den schon seit einiger Zeit totgesagten homo oeconomicus wieder zum Leben erweckt und in seine Rechte eingesetzt. Das Modell, betonten sie, stehe für die nicht von der Hand zu weisende Tatsache, dass alle Entscheidungen - nicht nur wirtschaftliche wohlgemerkt, auch ganz private  - letztlich durch die miteinander konkurrierenden Eigeninteressen aller Marktteilnehmer motiviert sind. Wir sind also mit anderen Worten alle nur darauf aus, nach weitgehend rationalen Gesichtspunkten unseren Nutzen und unser persönliches Wohlbefinden zu maximieren, gern auf Kosten unserer Nebenmenschen übrigens. Christopher Sims und Thomas Sargent  erhielten den Preis für ihr unermüdliches Reanimierungsprogramm, weil “die Wirtschaftswissenschaft” - wie es in der Begründung des Komitees hieß -  “vorerst nicht ohne dieses Denkmodell auskommen kann.”  Das bedeutet, wenn ich das in eine etwas verständlichere Alltagssprache übersetzen darf:  man weiß zwar, dass das Konzept falsch ist, aber man benutzt es trotzdem unverzagt weiter, weil man noch nichts Besseres gefunden hat. Das ist in etwa so, als plante man eine Reise von Tanger nach Timbuktu und durchsuchte - da eine passende Karte gerade nicht zur  Hand ist - seinen Dachboden, wo sich aber nur, sagen wir, die Kompass-Wanderkarte No. 02 von Oberstaufen findet. Dass eine falsche Karte besser ist als überhaupt keine, ist eine schon etwas -im wahrsten Wortsinne- abwegige Idee.  Wie sagte Einstein in einem ganz ähnlichen Zusammenhang? Wer auf so was kommt, ist “entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler“. Wenn man sich darüber hinaus noch einmal verdeutlicht, dass der Preis drei Jahre nach der großen Finanzkrise vergeben wurde, die  bekanntlich durch das völlig irrationale Verhalten fast sämtlicher beteiligten Investoren ausgelöst wurde, dann kann man leicht den Verdacht schöpfen, dass dem Nobelpreiskomitee irgendeiner was in den Tee getan haben muss, was sich jetzt allerdings nur noch schwer nachprüfen lässt, fürchte ich. Immerhin müssen wir dem armen Komitee zugute halten, dass diese angeblich hochwissenschaftlichen Zusammenhänge auch wirklich nur schwer zu durchblicken sind. Eigentlich soll sie auch niemand verstehen. Da ist es nur allzu verständlich, dass man in Stockholm inzwischen zum Gießkannenprinzip übergegangen ist.  Das ist sicher auch der Grund dafür, dass der Wirtschaftsnobelpreis des Jahres 2013 an zwei Wissenschaftler ging, die einander diametral entgegengesetzte Theorien vertreten: während Robert Shiller (immerhin!) vor der Irrationalität des Marktes warnt, besingt Eugene Fama eine perfekte  Börsenwelt, ohne die wir unverzüglich in einen Zustand vorindustrieller Dumpfheit zurückfallen würden. Dabei weiß inzwischen jedes Kind, dass die Börse mit der Realwirtschaft seit über zwei Jahrzehnten in etwa noch so viel zu tun hat wie ein Dinosaurier mit einem Kanarienvogel, nämlich (so gut wie) nichts. Ein paar Gene sollen besagte Urviecher  ja mit unseren gefiederten Freunden noch gemeinsam haben, aber allzu viel können es wirklich nicht sein.  

79    Mein Liebling ist übrigens: Don´t just sit there. Save the world!  Man kann nämlich tatsächlich die Welt auch vom Küchentisch verändern. Davon bin ich fest überzeugt. Jeder kann daheim, während nebenbei die Bohnen im Ofen schnurgeln,  E-Mails schreiben oder auch richtige schöne altmodische Briefe. Er kann dort lesen, malen, schnippeln, nachdenken. Und außerdem kann er an diesem Tisch Leute zusammenbringen. Auch welche, die sich noch gar nicht kennen, aber zusammenpassen würden. Doch darüber später mehr.

80   Über die „tools“,  wie man neudeutsch die Instrumente nennt, derer sie sich bedienen, ist im nächsten Band des Handbuchs so einiges wirklich Haarsträubende  nachzulesen. Lassen Sie sich überraschen!

81  Dieser Wandel wird im Plastikdeutsch der Politik auch gern als Paradigmenwechsel bezeichnet:  Paradigmen sind Leitbilder. Das Wort würde hier auch sehr gut passen - aber der inflationäre Gebrauch des Begriffs macht ihn untauglich. Politiker benutzen den Paradigmenwechsel oft und gern, um den Wählern ihre Kompetenz nachzuweisen.  Ich fürchte allerdings, dass uns nur  maximal jeder zweite erklären kann, was damit gemeint ist. Aber so ein Wort  klingt natürlich schick, innovativ, ja geradezu visionär, um gleich noch eines der Lieblingswörter unserer Führungseliten zu erwähnen, das auch mal auseinandergenommen gehört: der Visionär sieht sich gern als Heilsbringer des göttlichen Marktes, als sein vom Heiligen Geiz inspirierter Prophet. Aber es ist eben ein falscher Prophet, vor dem man sich hüten sollte. Das steht schon so in der Bibel. Unser aller Helmut Schmidt riet diesen Visionären denn auch, mal zum Augenarzt zu gehen und sich eine neue Brille verpassen zu lassen.  Dem alten Fuchs hat natürlich nie einer was vormachen können.  Verlassen wir uns einfach auf unser Gefühl: „wer nicht im Geruch der Heiligkeit steht,“ ist garantiert ein Scharlatan. Allein diese Formulierung beweist, dass wir ein Gefühl für Falschheit haben, einen Sechsten Sinn, auf den wir uns einfach zu verlassen brauchen.

82     ….sogar die Jungen, die mit den Skateboard warten und nur ihre (angeblich) Flügel verleihenden Energy-Drinks bezahlen wollen. Haben Sie jemals gehört oder persönlich erlebt, dass ein Omchen von ihnen angemacht wurde? Wo sind die (vermeintlichen) Rotzlöffel also alle gerade? Natürlich hört und liest man immerzu von gewaltbereiten Jugendlichen, was aber kein Grund ist, alle in einen Topf zu werfen. Lassen Sie Ihr Weltbild nicht von Menschen bestimmen, die etwas Staubsaugerhaftes haben und nur den Schmutz aufnehmen. Verallgemeinere nie! ist ein guter Rat (den man aber auch nicht verallgemeinern darf). Wenn sich ein paar, zu einer gewissen Spießigkeit neigende Zeitgenossen denn auch gern  über “die Jugend von heute” alterieren, fragen Sie doch einfach mal nach, wen genau sie damit meinen. Damit können Sie die Phrasendrescher ganz schön durcheinanderbringen. “Die Jugend von heute “ trifft sich im “Club der Idealisten”, der zu unserer Buchhandlung gehört einmal wöchentlich und diskutiert über Gott und die Welt, dass einem ganz schwummrig wird vor so viel geballtem Wissen.   

83   „Leerformel“ ist der sprachwissenschaftliche Ausdruck für Begriffe oder Wendungen, die meist durch inflationären Gebrauch allen Bedeutungsinhalt verlieren und dann nur noch rumstehen wie leere Bierdosen. Vor allem Wortprägungen, die zu manipulativen, propagandistischen Zwecken verwendet wurden, sind meist auf immer und alle Zeiten nicht mehr benutzen  - was bedeutet, dass wir alle ein sehr genaues Gespür für das Verlogene haben und diese Lüge dann auch instinktiv ablehnen. So sind sämtliche „unverbrüchlichen Freundschaften“ zwischen den „sozialistischen Brüderstaaten“ kontaminiert etc.etc. Man kann zwar versuchen, ihre Elemente noch mal zu recyceln, so wie die genannte Bierdose, aber so recht wird nichts mehr daraus. Sie eignen sich nur noch für ironische Zwecke. Wörter, die eine mehr oder weniger  plötzliche Bedeutungsverschlechterung erfahren, bezeichnet man in der Sprachwissenschaft als verderbt. Inzwischen hat´s sogar den Banker erwischt.  Seit dem Riesenkladderadatsch im Oktober 2008 kann man als Berufsbezeichnung leichter  „Eintänzer in einer Schwulenbar“ angeben als Banker oder gar Finanzanalyst, ein Wort, dem man inzwischen auf Meilen das Perverse ansieht. Haben wir bloß noch nicht vorher gesehen. (Ist mir auch erst kürzlich beim Scrabblen aufgefallen.) Aber apropos Bedeutungsverschlechterung:  der Idealist befindet sich leider schon länger auf dem sprachlichen Abstellgleis, wohin er von den Realisten verschoben wurde. Wenn es uns bzw.  diesem Buch nicht irgendwie gelingt, den Idealisten zu retten ( d.h. sowohl das Wort, wie das, was es bedeutet), dann ist Idealismus demnächst gleichbedeutend mit einer vorübergehender Phase in der juvenilen Entwicklung, die man nicht weiter ernst zu nehmen braucht, weil sie „sich von alleine gibt“ und allerspätestens mit dreißig vorbei ist. Wenn das Buch es aber schaffen sollte, den Idealisten  von diesen Abstellgleis wieder dahin zu befördern, wo er hingehört, und ihn wieder zu Ruhm und Ehre zu bringen, dann will ich schon damit sehr zufrieden sein. Dann hätte ich wenigstens ein Wort und das, was es bezeichnet, vorm Untergang gerettet. Was, bei Licht betrachtet, schon eine ganze Menge ist.
        
84    Es ist schon hochseltsam, wie dieses Frikadellen-Imperium ganz einfach einen Satz „I´m loving it“- „ich liebe es“  rotzfrech mit einem Trademarksymbol brandzeichnet und kurzerhand als Privatbesitz erklärt. (Meins!) Demnächst werden dann wohl auf Wörter Copyrights angemeldet wie jetzt schon auf Saatgut - und zwar nicht etwa nur auf gen-technisch verändertes, sondern auf ganz normale Sorten, die immer schon Allmende waren.  Das hatte zur Folge, dass indische Reisbauern für das Anpflanzen traditioneller (!) Sorten Tantiemen zahlen  bzw. hybrides Saatgut kaufen sollten. Das ist Gott sei Dank zurzeit vom Tisch.  Aber wer weiß, auf was für abstruse Ideen die Herren der Welt sonst noch alles kommen.  Merke: so krank, wie die sind, kann man gar nicht denken. Deswegen ist Phantasie gefragt, eine sehr nützliche Eigenschaft, weil sie die Fähigkeit umfasst,  in Konsequenzen zu denken.  Merksatz 2: diese Global Players, die die Geschicke des Planeten lenken, haben sich alle Regionen ihres Gehirns, die nichts mit Zahlen zu tun haben, rausnehmen lassen, also auch alles Schamgefühl. Wie unsere Azubis sagen würden: die scheißen sich gar nichts. In der Kürze liegt die Würze. Ich  hätt´s nicht besser ausdrücken können.

85      Auch  das schöne alte „Immer mit der Ruhe„ ,„Soviel Zeit muss sein“, „In der Ruhe liegt die Kraft“, „Kein Stress“   und andere Sätze erfüllen ähnliche Funktion. In den Staaten ist es ein „Take it easy“, aber häufig  auch „no sweat“
oder auch das internationale  „no problem“ alias „no ploblem“ in den eher Pidgin sprechenden ehemaligen englischen Kolonien. Zauberhaft ist auch das australische „No worries, mate!“.
 
86    Lange hieß es,  dass “Nett die kleine Schwester von Scheiße” ist. Aber das wollte ich nicht so in den Haupttext schreiben. Der Satz ist, wenn man´s recht bedenkt, einfach nur furchtbar. Die Weigerung nett zu sein, dafür aber  immer schön cool zu bleiben, hat eine unsichtbare zwischenmenschliche  Wand aufgebaut. Der Coole zeigt sich  unbeeindruckt von allen und allem. Jede Form von Interesse, Anteilnahme oder gar Solidarität geht ihm völlig ab, was die Eltern und Lehrer dieser Generation schier zur Verzweiflung getrieben hat. Der Versuch, die ach so coolen Kids für irgendetwas zu begeistern, schien nämlich  in etwa so aussichtsreich zu sein wie der, aus einem Waschlappen Funken zu schlagen - und das legt sich einem auf die Dauer wirklich aufs Nervenkostüm.  Vor vier, fünf Jahren zeigten sich aber  schon die ersten Risse im Putz: die neue Nettigkeit kam auf und das oben näher beschriebene “Alles gut!”.   Jungen Leuten, die in die Buchhandlung kommen und irgendwas besonders cool finden, erzähle ich, wenn ´s ins Gespräch passt, dann schon auch mal die Sprachgeschichte des Wortes, die kaum jemand kennt: diese Coolness geht auf die amerikanischen Sklaven des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zurück. Cool zu sein  galt damals als Form passiven Widerstands: man zeigte sich unbeeindruckt von psychischem und physischem Druck, tat seine Arbeit wie geheißen und war innerlich frei. Und das finden die Kids von heute durchaus cool.  

87    Der Mainstream hat sie vor allen dazu erzogen, ihren Willen durchzusetzen ( „Du willst es, du kriegst es“ wirbt zurzeit denn auch ein marktbeherrschender Elektronikhändler, ein anderer lockt mit einem lüstern vorgetragenen „Du willst es doch auch!“ ). Diese  eigentlich antisoziale Haltung versucht er uns seit Jahrzehnten  als gesundes Selbstbewusstsein zu verkaufen.  Jeder, der neben den üblichen fünf Sinnen noch einen sechsten hat, ahnt  schon länger, dass diese eigenartige  Betonung des Selbstbewusstseins, das wir angeblich alle brauchen, irgendwie stinkt.  Oder kennen Sie jemanden, der durch selbstbewusstes Auftreten sympathischer geworden wäre? Ich wage zu behaupten, dass genau diese mangelnde Kooperationsfähigkeit einsam macht.  Was in der Absicht der Bewusstseinsingenieure liegt: das war sozusagen der Plan. Aber die Tour müssen wir ihnen unbedingt vermasseln! Meinen Sie nicht, dass wir das als Gesellschaft hinkriegen könnten? Indem  wir zum Beispiel  den coolen Kids nicht mit unverhohlenem Vorwurf begegnen, sondern sie über das globale Brainwashing aufklären. Trends hinterherzuhumpeln ist genau das,  was der Mainstream von uns will. Die echten Trendsetter aber schaffen ihre eigenen Gegenkultur.

88   … und das manche, die mit der Ungnade der späten Geburt zu kämpfen haben, nicht einmal mehr wiedererkennen könnten - weswegen richtiges Brot für ihre an Papp- und Pseudobrot gewöhnten Geschmacksnerven ein echter Schock ist. Das ist der Grund dafür, dass wir in unserem Kaffeehaus auch gern unsere Sauerteiggeheimnisse verraten und jeder der mag, erhält völlig kostenfrei auch noch ein Tütchen getrockneten Sauerteig dazu mitsamt einer genauen Anleitung, wie daraus ein Brot herzustellen ist. Dieses Rezept ist so unglaublich einfach - und doch: es verändert, verzaubert  möglicherweise Ihr Leben. Machen Sie einfach mit!  Ein Club der Idealisten kann auch ganz einfach
nur ein Brotbackverein sein, in dem man sich mehr oder weniger regelmäßig trifft und miteinander austauscht. Den Sauerteig dafür schicken wir Ihnen gerne!   

89   Wer Augen hat zu sehen - oder über ein entsprechendes Vergrößerungsglas verfügt - sieht diesen Verdacht in der Regel nach einem Blick aufs Etikett auch bestätigt. So las ich unlängst auf einem Marmeladenglas aus dem Angebot einer  Großbäckerei, dass für die Konfitüre auch gehärtete und ungehärtete Fette verwendet wurden. Nun frage ich Sie: was tun Fette - ob gehärtet oder nicht - in einer Marmelade? Das  erklärt vielleicht auch, warum das Zeug so schmeckt wie Wagenschmiere.  

90  Die Ampellösung, Sie erinnern sich, hat die Industrie gerade noch abschmettern können, den Lobbyisten sei Dank. Sonst hätte der Verbraucher ja  auf den ersten Blick sehen können, was ihm da angedreht wird. Und das gilt es natürlich zu vermeiden!

91    Auf der letzten Buchmesse traf ich einen lieben alten Kollegen,  der  für sein Leben gern kocht und auch so aussieht, das heißt, er hatte immer ein paar Pfunde mehr auf den Rippen.  Deswegen wunderte ich mich, ihn nicht mehr so ein wenig mockelig, wie man hier sagt, anzutreffen, sondern völlig abgemagert und  graugesichtig. Auf mein vorsichtiges Nachfragen verriet er mir freimütig, dass er seit nunmehr einem halben Jahr unter dem leidet, was man im Volksmund auch als „Flotte Lotte“  bezeichnet, zuweilen auch als „Montezumas Rache“, um nur ein paar der eher blumigen Ausdrücke zu verwenden, die diskret verhüllen, was eigentlich damit gemeint ist.   Kein Arzt habe ihm bislang helfen können, er sei ganz verzweifelt. Selbst wenn er nichts weiter als seine geliebten Bratkartoffeln esse, das Ergebnis sei leider immer dasselbe. Ich fuhr nach diesem Gespräch wieder nach Lindau zurück, aber irgendwie wollten mir diese Bratkartoffeln nicht aus dem Kopf gehen. Bis ich eines Morgens auf die Idee kam, ihn einfach mal zu fragen, wie er seine Kartoffeln denn würze. Ich rief ihn also an und er berichtete mir, dass er seit Jahren ein und dasselbe Bratkartoffelgewürz verwende, das er einmal im Jahr auf dem Weihnachtsmarkt bei dem Gewürzhändler seines Vertrauens kaufe. Da sei noch nie was passiert. Dass sich die Rezeptur vielleicht geändert haben könnte, ist ein Gedanke, der ihn leider nicht einmal streifte, denn Buchhändler gehören zu der eher vertrauensseligen Sorte Mensch, die nicht Phantasie genug haben sich vorzustellen, auf welch kranke Ideen andere Hirne zuweilen verfallen. Und doch: es sollte sich herausstellen, dass die aus China importierte Ware inzwischen mit Mottenpulver (!) gleicher Provenienz verschnitten war.  So kann ´s also gehen.  Seit lebensmitteltechnische Kontrollen als Handelshemmnis betrachtet und entsprechend lax gehandhabt werden, gibt´s ohnehin kein Halten mehr. Und mit TTIP wird´s dann noch mal schlimmer. Ganz ehrlich. Wollen wir das? Wollen wir amerikanische Schokolade essen, die laut Gesetz (!)  auf „100 Gramm 60 Insektenteile oder ein Haar eines Nagetiers“ enthalten darf - das ist in den Staaten wirklich Gesetz, ich mache Ihnen nichts vor! Jeder, der mal in den USA oder in Kanada war und aus Versehen in den Genuss dessen gekommen ist, was man dort unter Schokolade versteht, wird Ihnen gern bestätigen: sie schmeckt genau so. So, als hätte da einer Maikäfer mit rein vermahlen.
 
92      Lindan-verseuchtes Toastbrot - darüber berichtete vor nicht allzu langer Zeit die Süddeutsche Zeitung. Die Sache war aufgeflogen, als ein Rentner mit unerklärlichen Hautausschlägen und anderen beunruhigenden Symptomen zum Arzt ging. Auf die Frage, was er denn so esse, antwortete er, dass er eben wegen seiner Probleme eigentlich nur noch Tee und Toastbrot zu sich nehme. So fand der Arzt auch gleich den Schuldigen: die Brotfabrik hatte, wie sich herausstellen sollte, zum Zwecke der Gewinnmaximierung ihr Mehl mit Sägemehl (!) gestreckt. Da sehnt man sich doch fast ins Mittelalter zurück, da Bäcker, die sich solche Nummern leisteten, in einen Korb gesteckt wurden, den man mal kurz unter lebhafter Anteilnahme des geschädigten Publikums in einen Brunnen tauchte oder in ein anderes geeignetes Gewässer. Heute haben wir immerhin die Stiftung Warentest.      

93   Es gibt Menschen, die sich täglich bis zu zweihundertfünfzig Nahrungsergänzungsmittel einwerfen, las ich unlängst bei Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten. Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht.( München: Droemer-Knaur, 2013); wie sie das macht, darüber ist mehr bei Christian Kreiß: Gekaufte Forschung. Wissenschaft im Dienst der Konzerne (Europa-Verlag, 2015) in Erfahrung zu bringen.

94 Mit Ausnahme von Frau van der Leyen und der hübschen Sahra Wagenknecht natürlich, die ich mir beide auch als Kanzlerinnen vorstellen könnte. Sahra Wagenknecht würde auch nie über bewaffnete Auseinandersetzungen mit Russland nachdenken, die andere Politiker und Politikerinnen in diesem Land offensichtlich nicht ausschließen. Wie kommen die dazu? Allein das sollte uns klarmachen, dass Gefahr in Verzug ist! Ein Krieg im Jahr 2016? Es geht nämlich schon längst nicht mehr um ein paar  Sanktionen und ein wenig Säbelrasseln gegen Russland, dessen Rüstungsetat nicht einmal ein Zehntel dessen beträgt, was in den Staaten verpulvert wird: das können Sie alles bei Attac nachlesen und anderen Vereinen, die sich kein X für ein U vormachen lassen.  Achten Sie mal darauf, recherchieren Sie ein wenig, abonnieren Sie die Newsletter und schicken Sie sie weiter!   Und unterstützen Sie einen der wenigen wirklich vernünftigen Politiker dieses Landes - unseren Außenminister Steinmeier nämlich, der zu Besonnenheit aufruft. Schreiben Sie ihm und seinen Leuten - die antworten Ihnen auch getreulich. Herr Steinmeier wäre der beste Kanzler, der sich denken lässt,  womit ich jetzt aus Versehen in der Tagespolitik gelandet bin, aus der ich mich eigentlich heraushalten wollte. Aber manchmal geht´s eben nicht anders!  Da soll doch einer!  

95 Darin steckt das lateinische origo für Ursprung. Das Originelle ist also das  Neue, noch nicht Dagewesene, das wirklich auf seinen Autor ( lat. auctor  =Urheber) zurückgeht und nicht auf irgendjemand anders, der ihm als Vorbild dient. Oder bei dem er gerade „abkupfert“. Die Sprachgeschichte dieses Wortes führt auf ein paar gedankliche Nebengleise, doch lassen Sie mich Ihnen dazu ein wenig aus meinem buchhändlerischen Nähkästchen plaudern. Dieses Abkupfern geht auf die Zeit vor der Erfindung vielfarbiger Drucke zurück, da die Werke großer Künstler als Kupferdruck kopiert werden mussten, wenn man sie einem größeren Publikum zugänglich machen wollte. Nach getaner Arbeit werden die betreffenden Künstler dann auch schon mal auf ein Bier zusammen beim Wirt um die Ecke gesessen und fraternisiert haben, worauf die schöne Wendung „Alter Freund und Kupferstecher“ zurückgeht. Die Künstler waren meist gute Freunde: deswegen findet man auf Kupferstichen auch stets den Namen des Malers in einer Ecke mit dem lat. pixit  (= er malte) und in der anderen XY sculpsit ( =er stach, stichelte). Nun gab es allerdings in Zeiten vor dem geregelten Copyright auch jede Menge Galgenstricke, die es mit dem geistigen Eigentum nicht so genau hielten und sich die Tantiemen sparten, indem sie „abkupferten“. So kam bis weit ins neunzehnte Jahrhundert  auch so gut wie jedes Buch, das zum Beispiel in England erschien, in den Staaten als Raubkopie auf den Markt. Das Problem ist leider immer noch nicht vom Tisch: das e-book,  das als Idee durchaus seine Meriten hat,  hat in Sachen Copyright keine ganz reine Weste. Weswegen einige Anbieter jetzt auf die geniale Idee gekommen sind, Hobbyautoren ihre  zuweilen etwas  unterreflektierten Texte hochladen zu lassen. Diese Geräte (ich hier keine Namen,  aber wäre ich das Münchner Kindl,  würde ich mich darüber wirklich grämen) - diese Lesemaschinen verfügen denn auch  über eine beeindruckende Anzahl von Titeln, in denen man auch sicher das eine oder andere Juwel findet. Mehr sage ich zu diesem Thema nicht. Ich verkaufe inzwischen selber tolinos in meiner Buchhandlung, weil ich finde, dass man ja das eine tun und das andere nicht zu lassen braucht. Und auf Reisen mag so ein Teil ja auch ganz praktisch sein. Schade finde ich an dem Trend zum elektronischen Lesen allerdings, dass man unterwegs im Zug jetzt nicht mehr ohne weiteres erkennen kann, was das Gegenüber liest: Precht? Goethe gar? Oder Stephen King? Zu einem Stephen-King-Leser hätte ich mich jedenfalls nie ins Abteil gesetzt, zu Matthias Matussek oder Harald Martenstein aber immer! Auch zu Vince Ebert oder Bill Bryson würd ich mich gesellen, denn ich lache für mein Leben gern.
Heut ist das nicht mehr ganz so einfach zu entscheiden, was wir wohl oder übel als weiteren Kulturverlust verbuchen müssen.  Heute sitze ich vielleicht sogar jemandem gegenüber, der gerade die eine oder andere Sexszene durchlebt, uh, wobei mich regelmäßig der Gedanke streift, dass Pfefferspray eigentlich gar keine so schlechte Idee war. Gott sei Dank bin ich meinen überreifen Jahren vor diesbezüglichen Begehrlichkeiten relativ sicher, doch ich rate meinen jungen -und durch die Bank sehr hübschen -  Kolleginnen immer, sich ins Großraumabteil zu setzen, wenn sie zum Beispiel auf die Buchmesse fahren. Da kann nichts passieren. Außerdem sitzt man da meistens neben jemandem und kann schon mal linsen, was der andere auf dem Schirm hat, bevor man entscheidet, ob man mit ihm ins Gespräch kommen möchte oder lieber nicht.       
Ich habe in meinem Leben allein durch Bücher, über die man miteinander ins Gespräch kam, so wunderbare Menschen kennengelernt, dass mein Leben um einiges ärmer wäre, müsste ich sie mir wegdenken, was gar nicht geht.  Ja, wenn ich´s recht bedenke, wär´s sogar völlig anders verlaufen, hätte ich nicht in einem Münchner Kaffeehaus die „deutsche Unsinnspoesie“ in einer Reclam-Ausgabe gelesen, während neben mir ein distinguierter Herr saß, der auch Reclam las: Fontanes „Vor dem Sturm“ nämlich.  Dann folgten die zwanzig schönsten Jahre meines Lebens.   

96Emotional intelligente Menschen verfügen denn auch über Antennen, die man bis vor kurzem in den Bereich der Esoterik verwies, aber es gibt sie eben doch.  Auf ihren Radarschirmen taucht alles Falsche, falsch Klingende bald auf, wenn auch nicht ganz so schnell in der Musik. Vielleicht würden Physiker, die sich näher mit der Sache auseinandersetzen, nachweisen können, dass diese Musik  auch im wörtlichen Sinne auf einer “ganz anderen Wellenlänge” liegt. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber ist nicht diese gemeinsame “Wellenlänge“, die wir bei manchen Zeitgenossen schmerzlich vermissen, ein eigentlich ziemlich sinnfälliger Beweis dafür, dass sich die Intelligenz der Vielen am ehesten in solchen unbewussten sprachlichen Bildern zeigt?   
Wenn wir es nur irgendwie schafften, unserem Gefühl wieder mehr zu vertrauen,  dann könnten wir alle nicht nur Kunst von Kitsch unterscheiden ebenso wie Richtig von Falsch, dann wir wüssten überdies sofort,  welche Art von Zeitgenossen eben nicht auf dieser “Wellenlänge” liegen. Stellen Sie nur einmal vor, wir hätten so etwas wie einen vollautomatischen Banausen-Detektor! Am besten gleich einen mit Frühwarnanlage! Wie viel Zeit da gespart wäre! Zeit, die sich schon wieder für Sinnvolleres verwenden ließe, zum Lesen zum Beispiel.
Aber apropos Lesen und Wellenlänge: selbst wenn ich es,  wie bereits oben erwähnt, überhaupt nicht mit Esoterik habe, so glaube ich doch, dass all die guten Energien, die in ein Buch fließen, auf jeden wirken.  Wie sonst ließe sich erklären, dass eine wirklich  schöne Buchhandlung selbst Menschen verzaubert, die auch nach eigener Aussage  nicht so direkt der „Büchertyp“ sind?  In der Musik ist es dasselbe m.m.: auch wer sein Leben lang nur Dieter Thomas Heck und Kollegen ausgesetzt war, spürt, dass die himmlischen Sphärenklänge eines  Bach, Vivaldi oder Mozart auf einer völlig anderen Wellenlänge liegen. Könnten ein Physiker, ein Sprachwissenschaftler und ein Soziologe sich nicht einmal zusammentun und da ein wenig forschen ?  

97    In dieser Formulierung steckt übrigens ein wenig mehr als naiver Kinderglaube, den man Idealisten ja gern andichtet. Tatsächlich haben wir alle ein angeborenes Gefühl für Fairness und Gerechtigkeit. Deswegen lehnen gesunde Menschen auch jede Fabel ab, die verstörenderweise ungut enden will. Seit der Antike enden alle Dramen - seien es Komödien oder Tragödien - mit der Wiederherstellung einer gewissen Ordnung, die die diabolos ( gr. / wörtlich: die „Durcheinanderwerfer“) eine Weile lang stören konnten. Das ist bei Shakespeare nicht anders und nicht einmal in den Splattermovies, wie man die wirklich brutalen Streifen nennt, in denen die Regisseure auch schon mal ein wenig Blut in die Kamera spritzen lassen. Bäh. Aber das Gute siegt selbst hier schließlich, nicht weil die Regisseure gute Menschen sind, sondern weil das Publikum es nicht anders akzeptieren würde.
Als zum Beispiel in den Walt Disney Studios unter Verwendung von brandneuer Pixar-Software die erste Version der Toy Story entstand, war der Anführer zunächst ein menschenverachtender Zyniker - Tom Hanks, der ihm die Stimme gab, hasste den „Scheißkerl“,  wie er ihn - durchaus zutreffend - nannte. So kam es, dass der Film von den Pixar-Gründern völlig neu gemacht wurde, von Idealisten, die keine Mühe scheuten, etwas Richtiges, Gutes, Anständiges zu produzieren, während der Walt-Disney-Erbe Katzenberger, der den Streifen schon in die Kinos bringen wollte,  dem allgemeinen Druck nachgab. Toy-Story von Pixar wurde zu einem Riesenerfolg und Pixar über Nacht zum Star. Während die Katzenberger-Version ein Flop gewesen wäre, was wieder mal beweist, dass man die Intelligenz der Vielen nie unterschätzen sollte! Glauben Sie, dass ein Film wie Ziemlich beste Freunde ohne unser Gespür für alles wirklich Wichtige zu einem solchen Erfolg hätte werden können?

98 Mit einer gewissen Befriedigung möchte ich hier übrigens anmerken, dass wir durch einen gezielten Boykott nur wenige Exemplare eines Titels zu verkaufen brauchten, der der Feder eines populistischen,  extrem xenophoben Autors entquoll. Ich finde es ziemlich bemerkenswert, dass eben dieser Autor, der  u.v.a. gegen die Kontamination des deutschen Volkskörpers mit undeutschen Genen wettert,  immerhin einen Namen trägt, der ursprünglich exakt aus der Ecke zu kommen scheint, in die er ballert. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie.  Ich bezweifle allerdings, dass  ihm das aufgefallen ist. Ignoranten (gleich welcher Couleur und  Beschreibung) zeichnen sich nur selten durch einen pfleglichen Umgang mit der Sprache aus - und Sprachgeschichte ist ihnen ohnehin piepe. Aber dann kommen eben solche Sachen raus. Sätze, in denen ausmerzen zum Beispiel vorkommt, ein eigentlich sehr altes Wort, das auf  Feld- und Gartenarbeiten im Frühjahr zurückgeht („Im Märzen der Bauer“), das aber auf immer und alle Zeiten verderbt ist, wie es der Sprachwissenschaftler nennt. Und doch verwenden es viele Politiker immer noch und in letzter Zeit sogar wieder häufiger - aber klar, sie können ja nicht mit Klemperers LTI (=„Lingua Tertiae Imperii“ - die Sprache des Dritten Reiches ) unterm Arm herumlaufen….

99    Leider, leider gibt´s immer mehr Buchhandlungen, die laut Anweisung ihres Betriebs- oder Steuerberaters nur noch „Schnelldreher“ vorrätig haben und auch die nur „frontalpräsentiert“.  Unter den „Klassikern“ findet der Bildungsbürger dann nur noch einen einsamen Sherlock Holmes, etwas Nietzsche vielleicht noch und kaum noch nachweisbare Spuren von Jane Austen, damit hat sich´s dann aber auch schon.  In diesen auf einen höheren „Drehfaktor“ getrimmten Buchläden gibt es zwar keine geschlossenen Buchreihen mehr, dafür aber Salatschleudern, Frühstücksbrettchen ( aus angeblich nachhaltigem Bambus, der aber so nachhaltig auch wieder nicht sei kann, wenn man bedenkt, dass er um die halbe Welt geschippert wird, bevor die Bretter  hier für einen Euro fünf  plus Märchensteuer vertickt werden.  Wer in diesen gemainstreamten, verschlankten Buchhandlungen die  Schachnovelle begehrt, die einst überall zum Sortimentskern gehörte, kann lange suchen, denn die Schachnovelle ist der Warenwirtschaft zum Opfer gefallen. Die Warenwirtschaft, dieses Aas,  hat nämlich den Steuerberatern verraten, dass die Schachnovelle vielleicht noch drei, viermal geht im Jahr. Und das,  findet er, ist einfach zuwenig. Außerdem ist er sowieso der Meinung,  dass „Schach heute sowieso niemand mehr spielt.“ (Kein Witz - eine liebe Kollegin hat mir die Anekdote unlängst erzählt. Sie hatte ihm daraufhin mit der Bemerkung die Stirne geboten: „Drehfaktor?“  „Umschlagsgeschwindigkeit ?“ Das ist hier eine Buchhandlung und kein Karussell! Fassen Sie sich, Mann!“ Ungelogen! )  In diesem von Kosten-Nutzen-Optimierern zerrechneten Buchhandlungen steht auch garantiert niemand an der Kasse, der weiß, was gemeint ist, wenn jemand „Nette Gespenster“ oder so ähnlich sucht und nur noch weiß, dass es darin- um die Südstaaten der USA geht. Meine Kollegin Angela Roeder erzählte mir die Geschichte unlängst - sie wusste gleich, dass  Guten Geister von Kathryn Stockett (Goldmann 2013) gemeint waren, die übrigens auch ein Beispiel dafür sind, dass die echten, großen Erfolge immer gegen den Mainstream unterwegs sind. Kathryn Stockett wurde von über siebzig Verlagen abgelehnt - das Thema hielt man für zu heiß. Bis ein kleiner Verlag sich bereit erklärte,  das Risiko einzugehen. Heute ist dieser Verlag nicht mehr klein - weil es überall vernünftige Menschen gibt, die richtig viel Geld für richtig gute, engagierte Bücher ausgeben. Vielleicht kapieren ja auch die Mainstream-Verlage  dereinst, dass es sich durchaus lohnen kann auf Bücher zu setzen, die zum Denken anregen. Und nicht nur auf solche, die einem bloß die Zeit stehlen. Aber das wird schon noch dauern, weil auch hier  in den Führungsetagen Leute  auf dem Vormarsch sind, die es mit Lesen nicht so haben.

100  Das ist nicht ganz korrekt: der homo sapiens erscheint wohl erst im Pleistozän, dessen Ende mit dem Beginn der Junsteinzeit zusammenfällt.

101 Der Evolutionsbiologie Carsten Niemitz (*1945)  hat übrigens eine sehr interessante Theorie dazu entwickelt, die er in seinem Buch Das Geheimnis des aufrechten Gangs darlegt (München: Beck-Verlag, 2011): er glaubt, dass der Mensch nicht etwa in der Savanne angefangen hat, sich aufzurichten, sondern in seichten Gewässern, in denen sich problemlos Muscheln und Krustazeen sammeln und  kleine Fische erbeuten  ließen. Dafür spricht tatsächlich so einiges: der Spiegel berichtete darüber  www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/evolution-carsten-niemitz-erklaert-das-raetsel-des-aufrechten-gangs-a-822950;  auch einen gleichermaßen betitelten Dokumentarfilm gibt es dazu, der eine schlüssige Erklärung dafür bietet, dass Männer auf langbeinige Frauen stehen - sie dürften die tüchtigeren Jägerinnen gewesen sein…

102   In Band 2 des Clubs der Idealisten  wird von Data Mining - wie man dieses weltweite Ausspionieren der Mediennutzer  nennt - noch ausführlich die Rede sein. Ich verspreche Ihnen von allem ausführliche Auskünfte über ein Projekt, das ein großer Konzern  unlängst angeleiert hat - Ihnen werden die Haare zu Berge stehen! Ganz ehrlich: Sie brauchen keinen Krimi mehr. Von David Oggers genialem Thriller Der Circle (Köln: Kiepenheuer und Witsch-Verlag, 2015) sind wir wirklich nicht mehr weit entfernt.

103   vgl. Frank Ochmann: Verführt - Verwirrt - für dumm verkauft. Wie wir Tag für Tag manipuliert werden und was wir dagegen tun können. Paderborn: Gütersloher Verlag 2013.

104  Für Technikmuffel - von denen es gerade in  Idealistenkreisen ja eine ganze Menge gibt -  sei hier die Bemerkung angefügt, dass Selfies mit dem Smartphone erstellte Selbstportraits bezeichnen.  Es gibt Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als sich den ganzen Tag selbst mit ihrem Handy abzulichten und die Fotos dann irgendwo „reinzustellen“.  Da man den Bildern aber lange Zeit ansah, dass man keine Freunde hat, weil nämlich immer irgendwo der eigene Arm zu sehen war, gibt es  jetzt auch noch diese Selfie-Sticks. Das sind Teleskopstangen,  mit denen man  dann nicht nur  etwas größere Bildausschnitte ablichten kann, sondern auch so tun, als hätte jemand anderes das Bild gemacht, und das ist schon genial.  Diese Selfie-Sticks sind  zurzeit vor allem bei asiatischen Touristen  beliebt,  die auf ihren Reisen inzwischen  nur noch auf Motiv-Jagd zu gehen scheinen  und sich liebsten noch mit Mona Lisa  knipsen würden. Doch das haben die Franzosen inzwischen verboten, in den Museen jedenfalls. Beim Eiffelturm kann man offensichtlich nichts machen, da scheint man inzwischen Schlange zu stehen, um sich mit mindestens einem Pfeiler im Hintergrund verewigen zu können, weswegen ich dort gleich ein Eis- oder Kaffeewägelchen aufstellen würde. Da könnt man sich sanieren.
Hier in Lindau ist in Sachen Selfie-Stick inzwischen auch so einiges geboten: zuweilen stehen ganze Busladungen vor dem Wahrzeichen der Stadt -Leuchtturm und Löwe - alle mit Selfie-Stick und alle mit diesem unvermittelt aufgesetzten plötzlichen Grinsen, bei dem man als  unbeteiligter Betrachter auch  ganz leicht einen kulturpessimistischen Schub erleidet.   Deswegen gehe ich auch immer ganz schnell weiter, wenn ich Selfie-Sticker erblicke. Ich lenke mich dann immer mit der schönen Geschichte vom Teufel ab, der einst  mit einer armen Seele einen Rundgang durch die Hölle gemacht haben soll, wo -durchaus erwartungsgemäß - ein einziges Heulen und Zähneknirschen  herrschte und alle ganz elend aussahen und schlecht ernährt. Und das, obwohl überall riesige Töpfe herumstanden mit leckeren Suppen und nahrhaften Fleischeintöpfen. In der Hölle, erklärte der Teufel dem Besucher, gibt es aber bloß lange Löffel, mit denen man die Suppe zwar aus dem Topf kriegt,  nicht aber zu Munde führen kann und das ist eben Teil der Strafe. Wie erstaunt war unser Besucher, als er auch einen Blick in den Himmel tun durfte: hier standen die gleichen Gulaschkanonen wie in der Hölle und überall waren nur diese langen Löffel zu sehen.  Aber alles war fröhlich und rotbackig und guter Dinge. Das liegt daran, erklärte Petrus, dass die Guten sich gegenseitig mit diesen Löffeln füttern. Und auch noch Spaß dran haben. Le ciel, c´est les autres.
        
105   …die in den Siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein wenig erweitert und auch etwas anders dargestellt wurde, was noch deutlicher werden ließ, worum es Maslow ging. Die Graphik wird auch heute noch vielfach verwendet.

106   In der Fachliteratur wird der von Maslow geprägte Begriff der Selbst-Transzendenz oft auch mit Selbstverwirklichung wiedergegeben, aber das ist meines (vielleicht unmaßgeblichen) Ermessens etwas völlig anderes. Denn ein bisschen Malen, Stricken, Häkeln und Makramee-Ampeln-Basteln hat mit Transzendenz nicht allzu viel zu tun.
Nicht dass ich etwas gegen Selbstverwirklichung hätte. Von mir aus können alle kreativ werden,  bis der Arzt kommt. Was mich stört, ist, dass das spirituelle Element, das zur Tranzendenz gehört, da offensichtlich absichtsvoll untern Teppich gekehrt wurde.
 
107    statt des Ge……fummels wählte einer unserer führenden Politiker damals ein etwas anderes, allerdings eher unfeines Wort, das sich auf nicken reimt.  Doch das war sowohl meinem Verleger, einem Gentleman alter Schule, als auch mir denn doch etwas zu krude. Der vulgäre Ausspruch ging damals durch sämtliche Medien. Wie gut, dass wir den Mann abgewählt haben, der immer vom „Finanzplatz“ bzw. vom „Standort  Deutschland“ schwärmt. Allein schon für diese beiden Begriffe würde ich ihm am liebsten eine Schadensersatzklage aufs Auge drücken, aber wollen wir mal nicht so sein.  Ich kann allerdings nicht umhin, an dieser Stelle zu vermelden, dass ich schon vor ein paar Jahren ein Konterfei dieses Herrn auf die Abfalltonne unter meiner Spüle geklebt habe, wo er  sich  wenigstens hier  etwas nützlich macht, indem er mich mit schöner Regelmäßigkeit daran erinnert, dass ich den Müll noch raustragen muss. Diese Mülltonnentechnik kann ich übrigens nur sehr empfehlen! Ja, wenn ich´s recht bedenke, würde es auch etwas bringen, wenn wir alle unsere braunen, gelben oder wie auch immer gefärbten Tonnen mit Texten und Bildern dekorierten, die keinen Zweifel darüber lassen, was man wirklich alles in die Tonne kloppen kann….. Die Mülltonne als Statement. Das hat was.

108  Hierzu muss ich Ihnen unbedingt eine ziemlich haarsträubende  Geschichte erzählen, die mir eine meiner Buchhändlerkolleginnen unlängst erzählt hat. Ihr Steuerberater sei nämlich von einem seiner Mandanten verklagt worden, weil er ihm nicht gesagt habe, dass er durch seinen Kirchenaustritt Geld sparen könne. Der Steuerberater verlor den Prozess.  Wenn man solche Dinge hört, kommt man mit Kopfschütteln kaum noch nach. Das sind dann die Momente, in denen man sich fragt, ob überhaupt noch irgendwas zu retten ist.

109     Neben den echten Wortimporten wie Kindergarten, Rucksack, Wanderlust  werden Blitz(krieg), Ersatz, kaputt, Schadenfreude, Kohlrabi,  jawohl und zack-zack bzw. ruckzuck u.v.a. durchaus verstanden, worüber ein wacher Geist schon ins Grübeln geraten könnte.  Außerdem gibt es noch die schon sprichwörtliche Angst. Über The German Angst machen sich die Amerikaner denn schon auch seit vielen Jahren Gedanken, was uns ehrt, was aber  nicht nötig gewesen wäre. Keine Angst zu haben kann nämlich ganz schön ins Auge gehen, scheint mir. Ein bisschen mehr Reflexion hat noch keinem geschadet. Vielleicht wäre dann auch die Immobilienblase 2007 nicht geplatzt, bei der allein in den USA acht Millionen Menschen ihre Arbeit und sieben Millionen ihr Haus verloren. Plus ihre Ersparnisse. Zu denen, die damals den Freitod wählten, fehlen allerdings zuverlässige Angaben, aber es gibt Schätzungen, die von sechs-, wenn nicht siebenstelligen (!) Zahlen ausgehen. Was einem schon der Überlegung Anlass geben könnte, dass die Befürworter der Deregulierung entweder mit Blind- oder mit Blödheit geschlagen sind, jedenfalls mit zwei Eigenschaften, die sie von Managementaufgaben disqualifizieren sollten. Ist es so abwegig, die Zyniker,  statt sie auch noch zu belohnen, fürderhin zur Rechenschaft zu ziehen, so wie es die isländische Regierung 2008 gemacht hat? Die Isländer, die von der Krise besonders stark betroffen waren, waren die einzigen Europäer, die ihre Banken gnadenlos haben pleite gehen lassen, während sie ihre Bürger unterstützten. Und siehe da: heute ist der kleine Inselstaat wieder obenauf. Der isländische Ordoliberalismus scheint das Erfolgskonzept schlechthin zu sein.

110       Wenn man das Wort gerecht ganz einfach durch sozialverträglich ersetzt, wird dieser Satz auch  Lesern  einleuchten, die Moral im wesentlichen für heiße Luft halten oder auch nur für eine Erfindung des Christentums. Doch gerechtes alias sozialverträgliches Handeln ist nicht nur das einzig Wahre, sondern auch das einzig Logische. Unsere Hirne sind so gemacht - ungerechte Verhältnisse führen fast immer zu Gewalt. Und Gewalt zu Auflösung. In der Reihenfolge. Am Anfang steht also nie eine Gewaltbereitschaft, die von irgendwelchen Sozialdarwinisten in uns hinein halluziniert werden. Nein. Der Auslöser sind immer sozial unverträgliche Maßnahmen, die oft auf einen einzigen Sozio- oder Psychopathen zurückgehen. Korrigieren Sie mich gern, wenn ich mich täusche. Unsere Sehnsucht nach dem, was man oft und gern “als Werte” bezeichnet, wird übrigens so gut wie nirgends genau definiert. Was gehört eigentlich alles dazu?  Man ahnt es mehr, als dass man es weiß und eigentlich reicht das auch: mit diesem inneren moralischen Kompass finden wir nämlich auch bei Nacht und Nebel heim. Wie dieses Navigationsinstrument im einzelnen aufgebaut ist, scheint auch gar nicht so wichtig zu sein: wichtig ist nur,  dass es uns sicher nach Hause bringt und uns das Richtige tun lässt, ohne dass wir groß darüber nachdenken müssten. Echte Idealisten tun nichts, was sich “irgendwie falsch anfühlt” - und wenn, dann schlafen sie schlecht. Auch lehnen sie intuitiv ab, was ihnen in eine völlig falsche Richtung zu laufen scheint. Wenn das nicht zu Hoffnung Anlass gibt! Es gibt erstens diesen  von Mutter Natur  bereits vorinstallierten moralischen Kompass, dann gibt es zweitens unser angeborenes Gerechtigkeitsgefühl und drittens das schlechte Gewissen, das wir haben, wenn wir etwas Unanständiges tun. Wozu, bitte, sollte dieses Gewissen dienen, wenn nicht zur Kontrolle selbstsüchtigen Handelns? Die Chefideologen des Eigennutzes vergessen eben manchmal dieses schlechte Gewissen, das der vielleicht sinnfälligste Beweis für eine bereits von der Evolution vorgegebene Impulskontrolle ist. Sie stellen es denn auch gern als etwas dar, das die Kirche sich  als Instrument der Unterwerfung ausgedacht hat. Und tatsächlich ist in der Beziehung ja auch so einiges schief gelaufen. Fest steht aber trotzdem, dass unser Gefühl uns meldet, wenn wir uns falsch verhalten haben. Und auch wenn es immer ein paar Leute mit mehr oder weniger gravierenden Dachschäden gibt: unser Gewissen ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass das Gute in uns angelegt ist. Die Tatsache, dass es immer ein paar gewissenlose Egomanen gibt, verletzt zwar unser Gerechtigkeitsgefühl, weswegen manche Kollegen auf stur schalten und sich auch egoistisch  verhalten. Aber das ist eben auch keine Lösung. Vielleicht könnten ja wir versuchen,  den Resignierten gegenüber positive Signale auszusenden? Dann ließe sich eine ganze Menge von dem wieder hinkriegen, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten falsch gelaufen ist.

111     Auch der Erfolg der englischen Kultserie Downton Abbey ist ein solches Phänomen, das sich durchaus mit dem der Landlust vergleichen lässt.  Die Serie ist in England ein echter streetsweeper, der - und das ist gerade das Erstaunliche - jung und alt anspricht, worauf sogar ein Roman mit dem Titel  While We Were Watching Dowton Abbey anspielt. Seit Jahren wartet in England alles gespannt auf die  neuen Entwicklungen im Leben einer englischen Adelsfamilie und ihrer Dienstboten, die einander stets  mit dem größten  Anstand und Respekt zu behandeln bemüht sind.  Und auch wenn es immer ein paar Quertreiber gibt - die Guten werden mit den Finsterlingen doch immer fertig.  Dabei verzichten die Filmemacher ganz  bewusst auf die Art von Action, die man aus anderen Streifen kennt, aus amerikanischen vor allem, in denen offensichtlich immer irgendwas explodieren muss. Keiner, kein Insider vor allem, hätte es für möglich gehalten, dass eine solche harmlose, von Märchenmotiven durchwirkte Fabel so erfolgreich werden könnte.  Und doch - wer richtig hinsieht, weiß, warum es so kommen musste. Alles, was man im Leben wirklich braucht, kann man nämlich aus Downton Abbey lernen und eben deswegen hat die  Intelligenz der Vielen, der Anständigen, die Serie zu ihrem Liebling erkoren. Der wunderbare Julian Fellowes, der das Drehbuch geschrieben hat, wurde übrigens vor nicht allzu langer Zeit in Anerkennung seines Lebenswerks geadelt. Sir Julian Fellowes hat überdies eine Reihe von zauberhaften Büchern geschrieben, die ich Ihnen hiermit ebenso ans Herz lege: die Snobs und Eine Klasse für sich,  beide von sprachlicher und inhaltlicher Brillanz und sehr, sehr englischem Humor. Sie sind bei Goldmann erschienen.  
 
112   Für den immerhin möglichen Fall, dass Sie die schöne Geschichte nicht kennen, hier ist sie noch einmal in Kurzversion: der Club der Witze-Erzähler ist übereingekommen, sämtliche wirklich guten Witze säuberlich zu katalogisieren und mit Nummern zu versehen, sodass man sich fürderhin das Erzählen sparen kann, man braucht eigentlich nur die Nummer aufzurufen. Als eines schönen Tages ein Neuling den Club besucht und die leicht surreale Situation zu durchdringen versucht, geschieht es, dass beim Ausrufen einer Nummer 889 plötzlich keiner mehr lacht, woraufhin er sich natürlich erkundigt, warum das so ist. Die Antwort liegt natürlich auf der Hand: „die 889 war schlecht erzählt.“
   
113    Schon in einer Anwaltskanzlei kriegt man diesbezüglich so einiges geboten, worauf eigentlich niemand rechte Lust hat. Ich halte es für sehr fraglich,  ob Juristen wohl noch mal dasselbe studierten, wenn man sie rechtzeitig über all die schmutzige Wäsche ins Bild setzte, mit der sie täglich zu tun haben. Auch von der Arbeit in einer Bank dürfte sich so mancher Banker ganz andere Vorstellungen gemacht haben, als er seine Ausbildung begann. Im Nu muss er etwas tun, was ihm völlig gegen den Strich geht und inzwischen scheint das so schlimm geworden zu sein,  dass kaum noch einer zuzugeben wagt, in dem Metier seine Brötchen zu verdienen. Auch Ärzte und Apotheker haben es nicht leicht: irgendwann sehen sie nur noch Kranke. Es hat also jeder sein Päckchen zu tragen. Und jeder dürfte in seiner Ecke des Universums ein Weltbild entwickeln, das mit dem anderer nicht ganz kongruent ist.

114   “Cannabissel Gras denn Sünde sein?” wird er sich gefragt haben im letzten März, da der Bauer ja seit Urzeiten sein Rösslein einspannt, und so richtig, richtig übelnehmen kann´s  ihm eigentlich auch keiner: seine Tochter hat Schilddrüsenprobleme, die sie mit sehr starken Medikamenten behandeln müsste oder aber mit dem einen oder anderen Tütchen. Dann doch lieber das Tütchen, sagten die beiden sich und der alte Bauer produzierte auf Anhieb, da er den grünen Daumen seiner Vorfahren geerbt hat, eine höchst qualitätvolle, richtig leckere Sorte, wie man hört. Nicht, dass ich sie probiert hätte. Wenn ich mich wegschießen will, was hin und wieder mal vorkommt, reicht mir eine Packung  Mon Chéri, die ich für Notfälle immer vorrätig habe: Gras brauche ich nicht, denn ich bin ohnehin das, was mein früherer Steuerberater gern als “naturstoned” bezeichnet, also von Haus aus immer ein wenig high. Lange Zeit hielt er das für sehr bedenklich, wenn nicht sogar therapiebedürftig. Deswegen ließ er sich angelegen sein, mich hin und wieder von meinem “Weltverbesserertrip” herunterzuholen. Das hat sich, dem Himmel sei´s gedankt, seit der großen Finanzkrise ein wenig gegeben.

115 Wobei diese déformation ein Wortspiel ist: die formation professionelle ist die französische Bezeichnung für Berufsausbildung bzw. berufliche (Weiter-) Bildung. Die privative Vorsilbe dé- bedeutet also nicht das, was man im Deutschen unter Deformation verstehen würde, sondern einfach nur die berufliche Voreingenommenheit. Das Phänomen ist der Medizin sehr gefürchtet: für ein und dasselbe Problem schlagen Internisten und Chirurgen gern ziemlich unterschiedliche Therapien vor. Auch werden ein Psychologe und, sagen wir, ein Astrologe wohl selten darüber Einigkeit erlangen, was einem Mandanten zu raten ist.

116     Tatsächlich bin ich schon seit meiner Kindheit ziemlich kurzsichtig und  müsste eigentlich eine Brille tragen. Doch das lehne ich nicht etwa aus Eitelkeit ab. Ich bin nur irgendwann darauf gekommen, dass man ohne Brille praktischerweise vieles nicht sieht und das ist mir sehr genehm.  Mit Brille würde ich den ganzen Tag putzen - ich käme gar nicht mehr zur Ruhe. Weswegen es ( unter vielem anderen)  auch keines meiner Bücher je gegeben hätte. Ohne Brille sieht man vieles besser und lebt auch irgendwie entspannter, da man alles um sich herum wie mit einem jener Weichzeichner dargestellt findet, mit denen die einst die klassische Photographie Licht in ihre Bilder zauberte. So kommt es, dass ich meinen Silberblick auf dem Guten, Schönen, Wahren ruhen lassen kann und mich auch der nicht zu vermeidende Bücherstaub nicht über Gebühr stresst.

117   Im neuesten James Bond „Spectre“ trägt der smarte Mr.Kew eine ganz ähnliche. Und der rettet immerhin die Welt im Verein mit 007!

118 Interessant ist in diesem Zusammenhing vielleicht noch die Beobachtung,  dass es jetzt überhaupt Brillenputztüchlein mit einem  Zitat des Dalai Lama darauf gibt. Auch auf Pillendöschen, Frühstücksbrettchen, Kaffeebechern   und anderen, sagen wir, eher trivialen Gebrauchsgegenständen tauchen inzwischen nachdenklichere Texte auf, richtig tiefschürfende mitunter, die zwar selten ordentlich zitiert werden, aber immerhin.  Das war bis vor nicht allzu langer Zeit  noch undenkbar. Denn eigentlich hat der Markt jahrelang versucht,  uns zu Oberflächlichkeit umzuerziehen, weil sich an, sagen wir, eher niedrigschwelligen Vergnügungen schneller und leichter Geld verdienen lässt.
Doch dann kam, keine Minute zu früh, Richard David  Precht mit seinem sinnsuchenden Wer bin ich und wenn ja wie viele?, mit dem er dem wirklichen Zeitgeist aus der Seele sprach.
Seither ist so einiges  anders. Inzwischen versucht der Markt ein bislang übersehenes Interesse an Transzendenz und an Weisheitsliteratur wenigstens in klingende Münze zu verwandeln, wenn er die Entwicklung schon nicht im Griff hat. Allein schon deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass Bücher, kluge Bücher,  gerade jetzt mehr gebraucht werden denn je.

119    Die sprachgeschichtliche Herkunft des Wortes widerspiegelt noch diese Kampfbereitschaft: in Alarm steckt das (italienische) Kommando alle arme = an die Waffen!  Ganz ehrlich, mich erschüttert es zuweilen, wenn ich erleben muss, wie sich eher miesepetrige Menschen oft gegenseitig anpflaumen. Dieser Tage wurde ich Zeuge einer eher unschönen Szene in einer Bäckerei. Dort hatte sich eine Schlange gebildet, aber ein Neuankömmling wagte es, daran vorbeizugehen und sich schon mal das Angebot anzuschauen. Gleich wurde er von einem Schlangesteher aufs rüpelhafteste attackiert, worauf ich nicht anders konnte, als mit der lapidaren Bemerkung: „ So etwas nennt sich Aggressionsbereitschaft“ den Laden zu verlassen. Zumindest habe ich damit so einiges an Verblüffung ausgelöst: es ist immer gut, wenn man für derlei Situationen ein paar Sätze in petto hat, mit denen man das Publikum erstmal beeindrucken  kann. Mit „So etwas nennt sich Aggressionsbereitschaft“ können Sie jeden Meckerfritzen ganz leicht kaltstellen. Jedenfalls fürs erste. Eine Kommilitonin von mir hat noch eine sehr elegante Technik: in ihrem Geldbeutel hat sie stets ein paar Visitenkarten von einem gewissen Dr. A.M. Leuchter - statt sich auf das Niveau des Stinkstiefels herabziehen zu lassen, überreicht sie ihm die Karte mit den Worten: „Hier ist die Nummer von einem wirklich guten Psychologen“.  Zuweilen fügt sie noch ein „Da werden Sie geholfen“ hinzu und sie lässt erforderlichenfalls noch ein „Die nehmen sogar hoffnungslose Fälle“ nachklappen. Was meinen Sie, wie das wirkt! „Manchmal,“ sagt Charlotte, „muss man eben seinen pädagogischen Auftrag wahrnehmen. Better nate than lever, wie die Amerikaner sagen.“   

 120   Vielleicht interessiert Sie die (in diesen Zusammenhang passende) Tatsache, dass unsere Steuergelder für etwas so Hochspannendes wie Ekelforschung (ungelogen) verschwendet werden, in deren Rahmen man das, wovon hier die Rede ist, auch herausgefunden hat. Die Ausgaben dafür  hätte man sich auch sparen können, scheint mir.  Man braucht bloß den Fernseher anzuschalten und  sich diesen solariumsbraunen Alt-Playboy anzukucken, der in einer in Deutschland angeblich beliebten Show den Ton angibt.   Er ist für gleich zwei lexikalische Einträge ein hervorragendes Beispiel: der Ekel und das Ekel.  Aber vielleicht hat die Ekelforschung ja noch Potential: so hat man zum Beispiel Gehörlosen Filmaufnahmen gezeigt, die Politiker bei vermeintlich besonders inspirierenden Reden zeigten - woraufhin die Probanden sämtliche Anzeichen von Ekel entwickelten.  Da sieht man mal, was unsere Intuition so drauf hat!  Ich hab mir schon überlegt, dass ich vielleicht, sollte ich mal Tapetenwechsel brauchen, immer noch als Ekelforscher gehen kann. Stellen Sie sich  überhaupt mal Visitenkarten vor wie „Hans Dampf - Ekelforscher“! Die brauchen Sie bloß irgendwo vorzuweisen - damit lässt Sie jeder Portier (grinsend)  durch.

121   Tatsächlich steckt dahinter eine Naturbeobachtung von Aristoteles, der glaubte,  in einem Vogelei den sich bewegenden, „springenden“ Punkt erkennen zu können, hinter dem das Herz des jungen Vogels schlägt. Zunächst war damit also der Punkt gemeint, von dem das Leben ausgeht. Als Metapher für den entscheidenden, wichtigen Punkt machte die Fügung in allen Idiomen unserer Sprachfamilie Karriere.

122  Als Kinder sind wir zur  Blaubeerenzeit ganze Tage im Wald abgetaucht, mit unseren Fünfliter-Blecheimern, die sich überhaupt gar nicht zu füllen schienen. Bickbeeren ( alias Blaubeeren ) sammeln ist - wie vieles andere auch, was mit der Herstellung unserer Nahrung zusammenhängt -  sehr, sehr mühsam und unfassbar langwierig, wovon sich, wer das fertige Produkt verzehrt, oft keine rechte Vorstellung macht. Nach drei, vier Stunden hat auch eine geübte Sammlerin ein halbes Eimerchen davon voll, aber auch nur, wenn sie „eine Stelle“ gefunden hat. Bickbeeren sind nämlich zickig - die Sträucher wachsen zwar überall, aber sie denken gar nicht daran, jedes Jahr zu tragen, was ihnen niemand verübeln kann. Aber es macht die Sache eben nicht einfacher. Ich sehe mich noch heute mit meinen Cousinen  barfuss durch die Wälder meiner plattdeutschen Heimat streifen, da die heiße Luft zwischen den Föhren stand und die Zeit stehenblieb.  Das ist unvergesslich.  Und es macht mir heute klar, dass die Menschen diese Fähigkeit zum Sehen kultiviert haben, weil sie sonst nicht überlebt hätten. Wir können uns auf Dinge konzentrieren, die andere gar nicht sehen. Das ist ein hochspannendes Thema, das eigentlich gar nicht in eine Anmerkung passt - so viel gibt es dazu zu sagen. Ich komme im zweiten Band des Handbuchs noch einmal darauf zurück.  

123    Tatsächlich macht das Schlechte auf die Dauer tatsächlich „schlechtes Blut“, das wird Ihnen jeder Arzt bestätigen. Eine relativ neue Forschungsrichtung, die Epigenetik, hat eindeutig erwiesen, dass  negative Gedanken  die Genschalter unseres Körpers umlegen. Das heißt: das Schlechte zieht uns wirklich nicht nur psychisch, sondern auch physisch herab. Es beschert uns Krankheiten, die wir sonst nicht bekommen hätten. Tröstlicherweise funktioniert das Ganze auch anders herum: wer das Pech hat, sich schon die „Plag´“ geholt zu haben, der kann möglicherweise diesen Schalter wieder umlegen (das wichtigste Buch hierzu stammt aus der Feder des
Freiburger Psychiaters und Neurowissenschaftlers Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Piper-Verlag 2013).

124   Dass wirklich nur sehr selten über Gutes berichtet wird, stimmt übrigens nicht ganz. Inzwischen bringt sogar eine eher bild-orientierte, großformatige  Tagesszeitung einmal im Jahr, am 24. Dezember nämlich, eine ganze Ausgabe mit lauter guten Nachrichten und das ist etwas, wofür man nach Lage der  Dinge schon dankbar sein darf!  Am Heiligen Abend liest zwar ohnehin kaum jemand Zeitung, jedenfalls niemand, der noch einen Baum zu schmücken oder einen Rotkohl zu besorgen und kleinzuschnippeln hat, bevor es richtig Weihnachten werden kann. Und doch muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass die Bild-Zeitung zu den wenigen Printmedien gehört, die auch schon mal etwas Öl auf unsere wundgescheuerten Seelen gießen und die Stelle nachher  mit einem nachrichtentechnischen Trostpflaster zukleben. Und das ist immerhin etwas. Die traurige Wahrheit ist nämlich:  es gibt im Nachrichtengewerbe ein Gesetz, das ganz offensichtlich in jeder Redaktion in Stein gemeißelt an irgendeiner Wand hängt, wo es alle vor Augen haben: nur eine “schlechte Nachricht”, steht darauf,  “ist eine gute Nachricht”. Wem wir diesen zynischen Grundsatz zu verdanken haben, wird wohl nie mehr zu ergründen sein - ich stelle mir zuweilen, wenn ich Lust habe mich zu ärgern, einen jener glatzköpfigen Gründerväter vor, einen rotbewamsten Druckereibesitzer mit gefährlicher Neigung zu Übergewicht, Bluthochdruck, Hämorrhoiden (sowie Tob-, Bläh- und Wassersucht), der irgendwann gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in ein zweifellos vorzeitiges Grab gesunken ist. Nur war leider damit nicht dieser fatale Satz aus der Welt, was wieder mal beweist, dass man mit dem, was man vom Stapel lässt, gar nicht vorsichtig genug sein kann. Ein Wort, ein (Halb-) satz, selbst ein Ausrutscher, selbst ein sprachlicher oder gedanklicher Ausrutscher - und schon verläuft die Weltgeschichte anders, was mich als Sprachwissenschaftlerin immer wieder verblüfft: das Gute daran ist, dass auch eher mauerblümchenhafte Texte wie “Wir sind das Volk!”, über die jeder Werbefuzzi nur gelacht hätte, plötzlich ungeahnte Kräfte entwickeln können, obwohl es gerade eine rechtsradikale Bewegung gibt, die sich den Slogan unter den Nagel gerissen hat. Und das ist ziemlich traurig.  
Doch um noch einmal auf die  “Guten Nachrichten” zurückzukommen:  ich würde mir mehr als alles andere wünschen, dass jede Tageszeitung täglich eine Seite mit lauter guten Dingen bringt, statt wie bisher nur im Feuilleton. Was wir brauchen, sind tägliche Meldungen über  inspirierende Schul- oder Forschungsprojekte zum Beispiel oder Reportagen über  emotional und sozial intelligente Menschen. Ich würde mich sofort freiwillig melden und - unentgeltlich wohlgemerkt - Beiträge einsenden, die vielleicht nicht ganz wahr, aber zumindest gut erfunden sind. Für Recherchearbeiten ist in meinem Arbeitsalltag nämlich leider keine Zeit mehr, aber Geschichten erzähle ich immer gern!

125   Dieser höchst persönliche Eindruck ist übrigens nur eine Intuition, die ich bislang noch nirgends in der einschlägigen Fachliteratur zu diesem Thema gefunden habe. Sie ist nicht einmal eine Hypothese. Und doch glaube ich, würde man über ein entsprechendes Experiment untersuchen, ob eher das Beispiel des Bösen befolgt oder das des Guten, so käme man darauf, dass es gegen alles Unmoralische, Ungerechte in uns einen Blindwiderstand gibt wie in linearen Netzwerken mit Wechselstrom und Wechselspannung. Dieser Blindwiderstand, dessen Pendant  man in der Psychologie auch als Reaktanz bezeichnet, verhindert, dass wir auf die dunkle Seite überwechseln. Und dass kein normaler Mensch einen Film sehen (oder ein Buch lesen) will, in dem wirklich das Böse siegt. Meines Wissens spielt nur bloß der Holländer  Christoph Koch in seinen abgründigen Romanen mit derlei offenen Ausgängen - und sie sind, brrr, so verstörend, das der Geist sie des Nächtens gar nicht mehr ad acta legt. Auch unsere Ingrid Noll ist in der Hinsicht nicht ohne und vielleicht haben solche Schauergeschichten ja auch etwas eigenartig Faszinierendes, wenn man sich in der relativen Sicherheit seines Lesesessels befindet. Ansonsten ist aber alles Erzählen seit Anbeginn der Welt im Grunde von einem Bedürfnis nach einem glücklichen, wenigstens aber einen geordneten Ende geprägt. Von Homer angefangen über Shakespeare bis hin zu den Filmproduzenten von heute,  die sich auch bei James Bond, Star Wars und  Ice Age was gedacht haben.  Sie wissen, dass es diesen  Blindwiderstand des Publikums gegen alles Antisoziale gibt. Ist nicht dieses Tabu allein schon Beweis genug für die grundsätzliche soziale Disposition des Menschen?

126    Wenn man sich ein Wort wie „Risikofreude“ genauer bekuckt,  kommt man leicht darauf, dass Sprache oft als sehr  wirkungsvolles  Herrschaftsinstrument missbraucht wird, über das wir alle manipuliert werden sollen. Täusche ich mich, oder verursachen gerade die risikofreudigen Hasardeure nicht geringe Kosten, die wir dann zu tragen haben. Warum können Autobahnraser,  Extremsportler  und Börsenfuzzis die Kosten, die sie irgendwann unweigerlich verursachen, auf die Allgemeinheit abwälzen? Aber nein, sie sind ja bloß risikofreudig. Solche Wörter legen Meinungen fest. Wenn man Altruisten gern ein  Helfer-Syndrom attestiert, geschieht etwas ganz ähnliches: der Altruist ist eigentlich ein Fall für die Klapse, besagt diese Wortschöpfung, die zweifellos auf das Konto der Kreativen geht, die uns auch den Workoholic und den Harmoniesüchtigen  verkauft haben. Man weiß inzwischen man ja, dass sich die Neidhammel es immer und zu allen Zeiten auf die Kunst verstanden haben, etwas Gutes schlecht zu machen - mit so genialen Wortschöpfungen wie  Co-Abhängigkeit oder Workaholismus haben sie es auch hingekriegt. Jeder, der zwei und zwei zusammenzählen kann, merkt die Absicht und ist verstimmt. Was, bitte, soll daran schlimm sein, das zu lieben, was man tut? Und wieso ist der, der anderen hilft, neuerdings therapiebedürftig? Hinter solchen schon ziemlich perfiden Argumenten steckt nur die Missgunst fauler Säcke, wie man unschwer erkennt, wenn man sich ansieht, wer solchen Unsinn in Umlauf bringt. Diese ziemlich hanebüchene Diffamierung von Menschen, die sich selbst treu bleiben, ist leicht zu durchschauen.     

127  So benannt nach David Dunning und Justin Kruger, die diese kognitive Verzerrung vor einigen Jahren (1999) in einem populärwissenschaftlichen Kontext beschrieben.  Der Begriff bezeichnet die sehr verbreitete Neigung selbstbewusster Menschen, die eigene Leistung zu überschätzen, während man gleichzeitig die der anderen unterschätzt. Von uns aus kann natürlich kann jeder denken, was er will. Das Problem bei dieser Art von gestörter Selbstwahrnehmung ist allerdings, dass gerade die an hypertrophem Selbstbewusstsein Leidenden sich in Entscheidungspositionen bewegen, in denen diese Haltung Innovation verhindert: „Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist (…) Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, sind genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“ (David Dunning)
Diesen Dunning-Krüger-Effekt kannten wir schon als Kinder, wie der folgende Zungenbrecher nahelegt: „Wer nichts weiß und nicht weiß, dass er nichts weiß, weiß noch weniger als der, der nichts weiß, aber weiß, dass er nichts weiß.“  

128   Forschungsergebnisse wie diese bringen mich zuweilen auf den Gedanken, dass ein guter Teil dessen, was uns gerade zu schaffen macht, letztlich dem verflixten  Testosteron zu verdanken ist. Aber das ist auch eine sehr private und vielleicht nicht gerade objektive Meinung, die ich seit 1914 vertrete, wenn nicht sogar schon länger. Als die ersten Hochkulturen entstanden, hatten zunächst fast überall die Mütter das Sagen,  vom Zweistromland angefangen, über Ägypten, Kreta, Malta (was ihre heutigen Bewohner übrigens gern unter den Teppich kehren) etc.etc.pp.  Diese frauendominierten Kulturen schufen florierende, friedliche Staatsgebilde, in denen Milch und Honig flossen. Aber sie weckten stets die Begehrlichkeiten von eher testosteronhaltigen Nomaden, die die  mangelnde Wehrhaftigkeit dieser Matriarchate ausnutzten. Haben Sie sich je gefragt, warum in Ägypten die Pharaonen ihre Schwestern heirateten?  Weil, wie Barbara Walker in ihrem vielbeachteten Standardwerk dazu schreibt,  in diesen alten Matriarchaten die ältesten Töchter die Erbinnen waren - all das kann, wer mag, in ihrem tausend  Seiten umfassenden Werk Das geheime Wissen der Frauen / The Women´s Encyclopedia of Myths and Secrets. (London: Harper Collins 2010) nachlesen. Zwölfhundert Seiten, die Sie auf ebenso viele  Ideen bringen werden.  

129  Jüngeren Lesern werden  sie wahrscheinlich nicht mehr geläufig sein, die haarsträubenden Abenteuer des Bolle, der auf seinen Ausflügen in die Großstadt in so manch lustige Klemme gerät. Besungen wird besagter Bolle in einer Volksweise, deren Text in der Mundorgel zu finden ist, einer klassischen Liedersammlung, die  in jeder anständigen Buchhandlung vorrätig ist.

130 Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich in unserem Kaffeehaus  die  „iPotts“ größter Beliebtheit erfreuen, lustige Kaffee- bzw. Teepötte, die man  auf vielfachen Wunsch inzwischen dort auch kaufen kann. (Ich besitze seit kurzem auch einen. Als nämlich mein schöner, ehrwürdiger  mit  Strohblumendekor verzierter „Klön-Pott“ zu Bruch gegangen ist, hat mir ein mitfühlendes Wesen diese Tasse verehrt. Aber es ist nicht ganz dasselbe: ich bin als Norddeutsche hier am See gelegentlichen Anfällen von Heimweh ausgesetzt und dagegen hilft eine Tasse Bünting-Tee zuverlässig. Aber eben am ehesten aus einem richtigen Koppchen. Doch das sei hier nur so nebenher erwähnt.     

131 Dafür spricht tatsächlich so einiges! Der öffentliche Verkehr zeichnet sich inzwischen durch ziemliche Ruppigkeit aus, das ist leider wahr. Vor allem auf der Autobahn scheint das Gesetz des Stärkeren zu herrschen und wer viel unterwegs ist, sieht sich des öfteren in Situationen, die auch mal leicht ins Auge gehen könnten. Und in den letzten Jahren ist das auch noch ärger geworden - den Eindruck hab zumindest ich. Das liegt aber vielleicht nur daran, dass ich hier in Lindau lebe - sobald ich die A96 nach Norden nehme, hängen mir sofort jede Menge Auto mit Schweizer Kennzeichen an der Stoßstange. So sehr ich unsere Nachbarn als Menschen und als Produzenten der weltbesten Schokolade schätze - als Autofahrer sind viele von ihnen nur mit allergrößter Vorsicht zu genießen, jedenfalls in dieser Weltgegend. Denn gleich nach der Grenze müssen sie allen erstmal zeigen, wie viel Pferdestärken sie unter der Haube haben. Ich sage Ihnen, die Eidgenossen drücken hier auf die Tube, dass einem Angst und Bange wird. Vielleicht sind gerade wegen der fehlenden Geschwindigkeitsbeschränkungen auf unseren Autobahnen die Deutschen manchmal etwas unentspannt. Fahren Sie in Kanada und Sie fühlen sich so sicher wie in Abrahams Schoß.    

133 Dieser Zusammenhang ist so subtil, dass ich darauf natürlich nicht selber gekommen sein kann. Ich verdanke diese Überlegung einem der kenntnisreichsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe: Peter Watsons Ideen, einem knapp zwölfhundert Seiten starken Werk, in dem der Autor nachzuvollziehen versucht, was wann und vor allem warum erfunden bzw. entwickelt wurde. Dem leider anonymen Kunden, der mir den Titel im Gespräch empfahl, bin ich noch heute zutiefst für den Hinweis dankbar - vielleicht liest er ja diese Zeilen, was mich ungemein freuen würde.  Für das Buch braucht man, wenn man nebenher den fabelhaften bibliographischen Hinweisen nachgeht, gut und gern ein halbes Jahr, es lässt sich aber auch ohne weiteres auf ein volles Jahr ausdehnen, sogar auch zwei. Dieser Watson,  glauben Sie mir, ist so genial wie faszinierend.  Besser als in ein solches Wunderwerk kann man sein Geld gar nicht anlegen.  Da sieht man mal, was man für ganze achtzehn Euro in jeder Buchhandlung erwerben kann. Um den Preis gibt es  hier inzwischen nicht einmal mehr einen anständigen Zwiebelrostbraten. Das ist eines  der schwäbischen Traditionsgerichte, die sich in dieser schönen Ecke unseres Landes großer Beliebtheit erfreuen - aber er ist eben  nicht unter achtzehn Euro zu haben, der gegenwärtige durchschnittliche Kurs dürfte bei etwa zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Euro liegen,  was für ein Mittagessen in einer Kneipe,  zu dem dann noch die Getränke kommen, schon ein ganz schöner Batzen ist. Da sagt man immer Bücher seien teuer - Bücher sind nie teuer! Wenn Sie sich das nächste Mal überlegen, ob zehn oder fünfzehn Euro nicht doch zuviel sind für ein Bilderbuch oder einen schönen Roman  - denken Sie immer an diesen Zwiebelrostbraten. Oder von mir aus auch an ein Filetsteak. Oder einen Sauerbraten mit Rotkohl und ich-weiß-nicht-was.  Was hat man im Vergleich dazu an  einem Buch? Es wärmt uns noch nach Monaten an kalten Winterabenden, nährt unseren darbenden Geist und es tröstet uns darüber hinweg, wenn die Unseren gerade nicht da sind. Außerdem lenkt es  uns aufs angenehmste von dem ab, was uns gerade herunterzuziehen droht: üble Nachrichten zum Beispiel, die unser Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit bloß verstärken usw. usw. Lesen ist tatsächlich das einzig Wahre. Man muss bloß ein wenig aufpassen, dass man der Welt nicht vollends verloren geht.

134 Bewegliche Lettern wären auch noch gut gewesen, aber ich bin sicher, dass einer wie Gutenberg das mit ganz ähnlichem Ergebnis auch aus Holz hingekriegt hätte.  Ganz ohne Bücher wär´s freilich schon sehr zäh hienieden.

135   Dieser Begriff wurde auch von Daniel Kahneman und seinem Kollegen Amos Tversky geschaffen. Mathematisch Interessierte werden die damit verbundenen hochkomplizierten Rechenexempel lieben! Der Basisratenfehler bezieht sich auf Konstanten der Wahrscheinlichkeitsrechnung, für die uns Menschen - ebenso wie für andere komplexe mathematische Vorgänge -  alle Intuition fehlt. So unterläuft  auch logisch denkenden Menschen oft ein Rechen- oder eben Prävalenzfehler wie der, von dem in folgender  Geschichte die Rede ist: Auf dem Nachhauseweg trifft eines Nachts ein freundlicher Mensch auf einen anderen, der im Schein einer Straßenlaterne seine Armbanduhr sucht. Nachdem er ihm eine Weile dabei geholfen hat, fragt er ihn, ob er denn sicher sei, die Uhr hier und nicht anderswo verloren zu haben. Woraufhin der Befragte antwortet: „Ich schätze schon, dass ich sie anderswo verloren habe, aber hier kann ich wenigstens was sehen!“  Das bloße Vorhandensein von ein paar zufällig gewonnenen Daten bedeutet nicht, dass die Wahrheit nicht ganz anderswo liegt. Eine von Egoisten berichtende Geschichtsschreibung ist kein Beweis dafür, dass alles im Schatten derselben Geschichte Stattfindende auch von Egoismus charakterisiert ist. Wie entstehen bloß derlei schiefe Geschichtsbilder? Darüber denke ich immer dann nach, wenn mich wieder einmal jemand als „hoffnungslosen Optimisten“ bezeichnet und mir mit Informationen über die unwiderlegbar selbstsüchtige Natur des Menschen kommt, mit Darwin & Co. und dem  vielzitierten Willen zur Macht.  Es fängt doch schon damit an, dass man uns so gut wie alle Vorgeschichte unterschlägt! Unsere Geschichtsbücher setzen erst bei Hammurabi und Kollegen ein.   Was vermittelt man uns eigentlich über die Zeit, bevor Alexander der Grosse im Fluss ertrank?  Was wissen wir über die ganz frühen Hochkulturen, die erwiesenermaßen noch älter sind als die babylonischen? Was erzählt man uns über Malta? Hier finden sich die ältesten Hochbauten der Menschheitsgeschichte (aus der Zeit um 5000 vor Christus), in den Geschichtsbüchern kommt Malta aber nicht vor. Gar nicht. Erst später, im Zusammenhang mit den Kreuzrittern und dem nach ihnen benannten Hilfsdiensten. Ich sage das bloß mal so als Beispiel. Warum erweckt man auch heute noch in Museen für Vor- und Frühgeschichte überall auf dem Globus den Eindruck, dass unsere steinzeitlichen Vorfahren aus Kleinfamilien bestanden: aus Papa, Mama (die die Höhle fegt) und den lieben Kinderlein, in der Regel zweien an der Zahl. Liegt das vielleicht daran, dass die Museen im Zuge des allgemeinen Sparzwangs immer bloß Geld für ein paar Puppen genehmigt kriegen? Sodass die Clans, die bis auf wenige Ausnahmen die menschliche Entwicklungsgeschichte prägen, gar nicht dargestellt werden können. Dadurch entsteht ein völlig verzerrtes Geschichtsbild, sapperlot!  Tatsache ist, dass fast überall die Männer unter sich blieben und  gemeinsam jagten (und nachher auf dem Bärenfell lagen und höchstens noch an ihren Pfeilen herumschnitzten), während die Frauen alle miteinander nicht nur auf die Kinder aufpassten, sondern auch sammelten, was das Zeug hielt. Die völlig unterschiedlichen Arbeitsstile, die die Geschlechter seit jeher haben, sind genug Beweis für diese These. Frauen haben flache Hierarchien, Männer völlig andere, fast vertikale, die jeder Frau mit einem normalen Hormonhaushalt den Vogel raushauen würde. Umgekehrt m.m. dito, klar. Zweihunderttausend Jahre lang hat das alles trotzdem gut geklappt. Bis uns ein paar Sozialdarwinisten mitteilten, dass der Mensch schlecht ist, wie „die Geschichte“ beweist - aber das ist eben, wie wir es als Kinder nannten, ein typischer Fall von „Denkste“.  Wäre ich jetzt Mathematiker, könnte ich die Base-Rate sogar quantifizieren.  Der Base-Rate-Denkfehler ( im deutschen Sprachraum eher als Prävalenz-Fehler bezeichnet) wird vor allem  sich auf die sehr eingeschränkte Fähigkeit des homo sapiens angewendet, wenn es um die Einschätzung von statistischen Zusammenhängen geht. Dazu gibt es ein höchst interessantes Buch, das aber nur wirklich mathematisch Versierte glücklich machen wird: Der Hund, der Eier legt von Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben  (Reinbek: Rowohlt 2001 ).  Es ist genial, sehr, sehr witzig - enthält aber so viele Formeln, dass die Lektüre bei Matheunverträglichkeit zu spontanen Kopfschmerzen und sogar Schwindelanfällen führen kann. Hier ist also dingend Vorsicht geboten. Für Käpsele aber: top! ( Käpsele nennt man im Schwäbischen respektvoll eine hochintelligente Person;  kommt von lat. caput für Kopf.)      

136      vergl. Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution von Martin A. Novak und Roger Highfield. (München: C.H.Beck-Verlag 2013). Diesem Buch verdanke ich auch die Beobachtungen zum Bookworm-Projekt, von dem in den im nächsten Handbuch die Rede sein wird.  

137  Wer mehr darüber wissen will, dem sei u.v.a. Sorry, das waren die Hormone! des Arztes und Medizinkabarettisten Ronny Terkal empfohlen, der eine ziemlich unnachahmliche, geistreiche  Art hat, komplexe Zusammenhänge so darzustellen, dass jeder mitkommt.  (Zürich: Orell-Füssli Verlag, 2013).  

137      Ich stelle mir zwar gerade vor, dass das so leicht auch wieder nicht ist, mit der Gitarre würde es in so einer Röhre ziemlich eng. Vielleicht könnte man es mit einer Ukulele probieren, oder notfalls einer Pikkoloflöte, obwohl dann immer noch das Problem bliebe, dass man eine zweischläfrige Röhre bräuchte, so ein Kingsize-Teil, weil diese guten Gefühle ja erst dann entstehen, wenn wir in Beziehung zu unserem Nebenmenschen treten. Meines Wissens ist so etwas noch nicht entwickelt, aber man ist ja fix auf dem Gebiet, sodass man innerhalb der nächsten Jahre damit rechnen kann, dass Tausende von Sprichwörtern und Weisheiten, in denen die Menschheit intuitiv die Erinnerung an das goldene Zeitalter aufbewahrt hat, wissenschaftlich bestätigt werden können.

138   Wie Aggression wirklich entsteht, darüber kann der interessierte Leser alles in Joachim Bauers Buch Schmerz erfahren: Aggression ist nichts weiter als die Reaktion auf Ausgrenzung und Ungerechtigkeit, die unserer Psyche einen ganz ähnlichen, sogar messbaren Schmerz zufügt wie eine physische Versehrtheit.  Der homo sapiens ist nicht von Haus aus aggressiv - wäre er´s, so hätte er schon tausendfach die Möglichkeit gehabt, dem Rest der Menschheit den Garaus zu machen. Wir sind, ganz im Gegenteil, von Haus aus kooperativ. Unfaire Verhältnisse führen in der Regel aber zu  blindwütigen Reaktionen. Deswegen sind Gerechtigkeit und (sozialer) Frieden eng miteinander verbunden. Die Idee der Gleichheit gehört ebenso in diesen Bezugsrahmen. Über die égalité der Französischen Revolution ist viel geschrieben worden, auch viel Unsinniges. Niemand behauptet, dass wir Menschen gleich sind. Der égalité geht es vielmehr  um Gleichbehandlung, die jede Gesellschaft ganz leicht gewähren könnte, wenn sie nur wollte. In jeder kleinen, funktionierenden Gemeinde ist heute noch zu beobachten, wie sich gedeihliches  Zusammenleben entwickelt: auf dem Dorf wird auch der Dorfdepp anständig behandelt und der Umgang mit der Allmende geregelt.  Dieses eigentlich geniale System ist aber durch eine Erfindung durcheinandergekommen, die Mutter Natur unmöglich voraussehen konnte:  die des Geldes nämlich. Das Geld hat neue, unnatürliche Hierarchien geschaffen, in denen skrupellose Elemente  nach oben gespült werden, die „Mindernickel“ nämlich, um einen der sprechenden Namen aus dem Werk Thomas Manns zu verwenden: die Verschlagenen, die Trickster, wie Jung sie nennt, sind damit gemeint.  Die Natur hingegen hat eigentlich die Meritokratie in uns angelegt. Darin steckt das lateinische Wort für Verdienst ( nicht den Verdienst, sondern das Verdienst übrigens, was selbst unsere Volksvertreter gern verwechseln):  die Tüchtigsten, Klügsten, Verdienstvollsten ( und nicht die  Meistverdienenden wohlgemerkt) sollten eigentlich das Sagen haben und wenn ´s nach Mutter Natur gegangen wäre, wär´s dabei auch geblieben.   Doch dann kam der Teufel (griech. diabolos, wörtlich eigentlich der Durcheinanderwerfer) - und brachte das Metall: die Waffen, die Spiegel, das Geld und das Chaos.       

139   Die meisten unserer Kunden räumen ihre Bücher hinterher sogar wieder auf, das stelle man sich einmal vor! Mit einer signifikanten  Ausnahme allerdings: die Kunden, die Bücher übers Aufräumen und Ordnungmachen aus dem Regal ziehen ( vor allem den sehr empfehlenswerten  Titel Nie wieder Chaos! von Dorling Kindersley) lassen diese Bücher wirklich überall dort herumflacken, wo sie gerade sind: am Kaffeetisch im ersten Stock, im Wintergarten zwischen all den Musik-Titeln, gerne auch auf der Kundentoilette. Es ist ein echtes Phänomen. Nur die Chaoten wissen nicht, was sich gehört. Alle anderen sind zauberhaft.

140  Echte Materialisten kriegen von derlei paradoxen Aussagen sofort Kopfschmerzen. Daran sind  sie überhaupt leicht zu erkennen. Aber es gibt noch ein paar mehr Methoden, die im zweiten Band des Clubs vorgestellt werden, der Ihnen u.v.a. eine Art Lackmus-Test vorstellt,  mit dem man Idealisten und Materialisten ganz leicht voneinander unterscheiden kann: man lasse die Testpersonen  ganz einfach ein paar Begriffe definieren - Armut zum Beispiel bzw. Reichtum und Glück sind die Klassiker, aber auch Leistung, Lebensqualität, Vergnügen und vor allem - Leidenschaft werden Materialisten völlig andres definieren als unsereins.   Mit diesem Lackmustest ( wie ich ihn nenne) haben Sie im Handumdrehen heraus, wer zu welchem Lager gehört.
   
141  Gleiches gilt m.m. für Verlage: So wird zum Beispiel ein von mir sehr geschätztes kleines Verlagshaus, das jahrelang die engagiertesten zeitkritischen Bücher veröffentlicht hat, inzwischen von einem „Fachmann“ geleitet, der aus der Bastelbuchecke kommt. Weswegen er schon den Hobel angesetzt hat und  nur noch Bücher produziert, die man senkrecht unter der Tür durchschieben kann. Wieder ein Hoffnungsträger weniger.
 
142  Elizabeth von Arnim: Verzauberter April. (Frankfurt: Insel 2010). Hinreißendes  Buch, ein Fast-schon-Klassiker aus den frühen Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, den man eigentlich jeden April lesen kann, ohne dass es einem dabei langweilig wird. Elizabeth von Arnim erzählt darin Geschichte von vier sehr urlaubsreifen Damen, die dem verregneten London entfliehen und für einen Monat ein Schlösschen in Italien mieten, was die erstaunlichsten Folgen für alle mehr oder weniger Beteiligten hat. Sogar noch für die daheimgebliebenen Langweiler von Ehemännern.
   
143    Der bloße Gedanke an diese überflüssigen Plastikteile sorgt übrigens  in jedem schwäbischen Haushalt für spontane Heiterkeitsausbrüche.  Denn  hierzulande wird jedes schwäbische Kind, sobald es Mama und Papa voneinander unterscheiden kann, in die Zubereitung dieser Köstlichkeit eingewiesen, das heißt hier schüttelt man sich diese ebenso fabel- wie nahrhaften Spatzen  nur so aus dem Ärmel. Was man damit alles machen kann, lässt sich hier nicht einmal ansatzweise darstellen - die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Ein herrliches Alltagsessen sind vor allem Spätzle mit Linsen und „Saitewurscht“ (Wienerle also),  was jetzt vielleicht nicht besonders spannend klingt, aber glauben Sie mir, es ist köstlich und gibt einem Energie für den Rest des Tages. Ich habe ohnehin den Verdacht, dass die oft beobachtete, außergewöhnliche Tüchtigkeit der Schwaben zu einem vielleicht sogar entscheidenden Teil auf ihre einfache, bodenständige Küche zurückgeht, auf die - stets natürlich hausgemachten - Maultaschen,  die Flädle und  die wunderbaren Schupfnudeln.  Wer so etwas isst, kann auch richtig denken. Ist es Zufall, dass Einsteins  Lieblingsgericht Kässpätzle waren? Er ist bekanntlich in Ulm geboren, wenn auch nicht aufgewachsen, aber diesen Kässpatzen ist vielleicht eine Besonderheit zu verdanken, die Einsteins Gehirn auszeichnet.   Als man es untersuchte, fiel auf, dass die aus Fett bestehenden Myelin-Hüllen der Synapsen in seinem Hirnkäschtle  überdurchschnittlich  gut ausgebildet waren, was die neuronale Leitfähigkeit entscheidend beeinflusst haben dürfte. Tatsächlich scheint Fett das Hirn zu tunen, worauf schon die alte Weisheit „Wer gut schmert, der gut fährt“ hinweist.  Diese höchst bemerkenswerten Zusammenhänge - die als erwiesen gelten - sollten zu denken geben. Sicher ist jedenfalls, dass alles Low-Fat-und-Low-Carb-Geschwafel des Mainstream zu den allseits bekannten und beliebten Diät-Hysterien führt. Irgendwann, spätestens Anfang vierzig, wenn das im Zusammenhang mit Familienplanung  übliche Gefrette endlich mal vorbei ist, muss man einfach entscheiden:  will ich in den nächsten Jahrzehnten wirklich weder Käse noch Eier noch Butter geschweige denn Sahnetorte essen,  um möglichst sexy auszusehen oder schließe ich ganz einfach Frieden mit meiner gegenwärtigen, eher gemütlichen Konfektionsgröße? Kluge Leute tun das schon. Sie entziehen sich dem mainstreamigen Fitness-Kult und scheinen mir wesentlich gelassener als die gläubigen, oft sogar fanatischen  Anhänger dieser neuen Ersatzreligion, oder täusche ich mich da? Diese Sportgehabe  ist inzwischen so verbreitet, dass man schon ein schlechtes Gewissen kriegt, wer sich nicht jede freie Minute irgendwelchen mehr oder weniger sinnvollen Leibesübungen unterzieht ( Wie habe ich in der Schule schon dieses Wort gehasst: Leibesübungen! Es hat sich ohnehin  immer in beunruhigender lexikalischer Nähe von Leibesvisitation befunden und Leibwäsche, ach du grüne Neune! Da ist auch der Schlüpfer nicht weit und die Turnhose, die im Verein mit schikanösen Aufgaben wie Bockspringen, Weitsprung, Hundertmeterlauf  und anderen erniedrigenden Peinlichkeiten schon lebenslange Traumata ausgelöst haben - darüber sollte endlich mal einer schreiben und nicht immer nur über die Eltern, die einen angeblich verkorkst haben. Aber nein - schon in der Schule fängt es damit an, dass uns Sportlehrer erklären, worauf es im Leben ankommt und gerade introvertierten Menschen so richtig reindrücken, dass sie Nullen sind. Schon in der Schule beginnt die Gleichschaltung und so manch einer erholt sich sein Leben lang nicht mehr davon. Für Sportlehrer sollte es - ebenso wie für Wirtschaftswissenschaftler übrigens -  einen dieser Wesenstests geben, wie man sie inzwischen für Nutz- und  Kampfhunde verlangt: wer da als sadistisch durchfällt, sollte nicht das Recht erhalten,  unschuldigen Kindern die Biographie zu versauen! Kleinen, leicht zu beeindruckenden Mädchen vor allem, die eigentlich viel lieber zu Hause Fünf Freunde lesen würden oder Heidi oder sonst irgendetwas Wichtiges, was man wirklich braucht im Leben. Ganz ehrlich: ein bisschen Gummitwist und im Wald Buden bauen hätte uns zur Körperertüchtigung - das ist auch so ein Wort! - damals vollauf gereicht.  Heute gäbe ich was darum, wenn ich darauf schon viel früher gekommen wäre! Was hätte man sich da alles sparen können! Gäbe es eine wissenschaftliche Methode um zu ermitteln, wie viele Menschen pausenlos auf Diät sind, man käme auf ziemlich erschütternde Zahlen und volkswirtschaftlich Vorverbildete könnten auch ganz leicht die Opportunitätskosten dafür ausrechnen.  Wie hoch, schätzen Sie, ist wohl die Dunkelziffer der ganz Linientreuen, die selbst noch im Abendtäschchen eine Pillendose mit Süßstoff dabei haben? Wie soll man da denken können? Was soll aus dem Globus werden, wenn alles Zyklamat einwirft, keiner mehr richtig frühstückt und ordentlich Haferflocken isst?  Haben Sie sich jemals gefragt, wieso die Engländer die Dampfmaschine erfunden und den Autoreifen ( obwohl Herr Dunlop genau genommen Schotte war), sowie eine ganze Reihe anderer ziemlich praktischer Dinge?  Die Engländer sind, ganz klar, wegen ihres Porridge so kreativ ebenso wie  die Schweizer ob ihres Birchermüslis, das sich dort ungebrochener Beliebtheit erfreut. Der Hauptbestandteil von beiden ist nämlich Hafer. Und Hafer wirkt nicht nur  auf Pferde belebend, wie die Redensart „den sticht der Hafer“ eindrücklich belegt.  Hafer ist das Getreide, das den grauen Zellen Beine macht (und uns außerdem mit einer sehr kostbaren Substanz versorgt, dem Tryptophan nämlich - daraus bastelt sich das Hirn dann das allseits bekannte Serotonin.)  
Ich singe das Loblied auf den Hafer übrigens nicht nur, weil ich aus einer ganz, ganz alten Familie von „Möllern“ stamme, die im wesentlichen Hafer zu Grütze verarbeiteten. Ich glaube wirklich, dass man richtig essen muss,  um richtig denken zu können (wie Virginia Woolfe einst sagte). Wer  hingegen davon überzeugt ist, dass er im wesentlichen Muskeln braucht und einen knackigen Po, darf sich ruhig  weiter von Salat und meterdicken Tournedosteaks ernähren. Aber er halte sich gefälligst geschlossen  und rechne uns  nicht ständig  voller Selbstgefälligkeit aus, dass dieses verdammte Steak nur soundsoundviele Kalorien hat und der Salat auch bloß dreihundert.  Er soll uns, die Kreativen,  in Frieden das essen lassen, was gedankliche Höhenflüge befördert und dazu gehört garantiert kein Fleisch und überhaupt nichts, was Ammoniak enthält. Essen wir einfach, was unser Gefühl uns sagt - und nicht, was das Apotheken- oder Reformhausblättchen uns empfiehlt.  Glaubt mir, Leute, die Revolution beginnt in der Küche! Hier kann jeder dem Mainstream so richtig eins auswischen. Bringt Euch am besten gegenseitig bei,  wie man  Kässpätzle macht, (es ist wirklich ganz leicht und wir schicken Euch auch gern  das Rezept und eine Bezugsquelle für ein Spätzlesieb). Und wenn ihr´s drauf habt,  ladet ihr jede Menge Leute dazu ein, die ganz ähnlich denken wie Ihr und wartet einfach ab, was dann passiert. Subversive Spätzle-Treffen, das wär´s doch!  Damit könnte man (jedenfalls hier im Süden) eine Lawine lostreten!   „Wer sich wehrt, beginnt am besten am Herd„, könnte man texten - in Anlehnung an das griffige „Wer sich nicht wehrt, landet am Herd“ aus den seligen Zeiten der Emanzipationsbewegung. Tatsächlich beginnt die Zukunft genau hier: das griechische oikos - von dem unsere Ökonomie abgeleitet ist - bedeutet ursprünglich genau das: Herd nämlich. Er ist das Zentrum des Hauses, das Herz. Hier trifft sich die Familie, hier wird gekocht, gegessen, gelebt, gelacht, gedacht. Und hier verliebt sich auch alles gleich  in den Koch/ die Köchin. Deswegen braucht, wer ordentlich  kochen kann, auch keine „Partnerbörse“ -  wieso lassen wir es überhaupt zu, dass diese Börsen offensichtlich unsere Beziehungsstile zu verändern beginnen?  Was hat das Wort Börse ( das, Sie erinnern sich vielleicht, von Geldsack abgeleitet ist ) überhaupt mit Gefühlen zu tun?  Und die Ware Liebe mit wahrer Liebe?
 Eine in Kanada lebende Freundin von mir, die jahrelang glaubte, die große Liebe im Internet zu finden, gab schließlich ziemlich entnervt auf: vor allem die Jungs seien im Netz unterwegs „like kids in a candystore“. Widerstand gegen ein alles zur Ware machendes System kann auch hier beginnen: „Kocht, Leute, was das Zeug hält“,  rät sie inzwischen in dem erschütternden Buch, das sie darüber geschrieben hat. „Kocht und ladet Freunde und deren Freunde ein -  und wartet ab, was passiert. Die Liebe ist analog. Nicht digital.“        
   
144   Ich habe lange in Rothenburg ob der Tauber gelebt und gearbeitet, wo es einen sehr geschickten Geschäftsmann gab, der mit seinen Weihnachtsläden großen Erfolg hatte. Nach der Wende verlegte er einen Teil seiner Produktion nach China. Es geht die Sage, dass in seinem Zentrallager dann erst einmal die Schlitzaugen der Engelchen in runde umgemalt werden mussten, was die Familie W. aber vehement in Abrede stellte. Hätte ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch so gemacht. Ich stelle mir gerade vor, wie weit man von Sinngebenden in seinem Leben entfernt sein muss, um sich mit derart banalen Problemen auseinanderzusetzen und unschuldigen Engelchen  Kulleraugen  statt Schlitzaugen hinzumalen, statt die Dinge gleich da herstellen zu lassen, wo sie herkommen. Aber das war dem Herrn W. natürlich nach der Wende zu teuer. Er lebt inzwischen auch nicht mehr unter den Weilenden (wie unsere wunderbare Mutter es einst ausdrückte.)    

145  Ehre ist überhaupt einer von den Begriffen, mit denen ein typischer Materialist gar nichts anfangen kann.  Denn Leute, die „noch Ehre im Leib haben“,  tun, was sie tun, nach allen Regeln der Kunst, comme il faut, wie die Franzosen es nennen: wie es sich gehört.  Bezeichnenderweise benutzen sie  dieses comme il faut auch in der Bedeutung von anständig. Comme il faut zu sein gilt bei unseren Nachbarn als höchstes Lob. Von den Franzosen könnte der Rest der Welt  ohnehin so einiges lernen - wie man zum Beispiel am Wochenende eine Revolution anzettelt und die Großkopfeten aufmischt. Die Franzosen lassen nicht so viel auf sich sitzen wie wir. Sie deponieren auch schon mal fünfzig bis einhundert Fuhren Mist vorm Europäischen Parlament in Strassburg. Oder sie verwandeln (s.o.) ihren Käse in handliche Wurfgeschosse.  So muss man´s machen. Was meinen Sie, wie schnell solche Aktionen wirken! In Deutschland ist das leider alles ein bisschen anders: da müssen Revolutionen vorher angemeldet werden. Das Rote Kreuz kommt auch.  Und bei Regen findet das Ganze im Saale statt.
 
146   Den Firmennamen nenne  ich hier auch ganz bewusst und absichtlich, weil es vielleicht es ein paar Leute gibt, die sie dann auch kaufen. Die im Grunde ganz einfache Idee, seinen Freunden und Bekannten  besonders vorbildliche Produkte zu empfehlen,  ist in eingeweihten Kreisen eher idealistisch denkender Menschen inzwischen  als carrot-mob bekannt. Diese ( wohl wegen der belohnenden Karotte so genannte) Aktion ist eine Art von  Mundpropaganda für  besonders nachhaltige wirtschaftende Unternehmer, die man so unterstützt, auf dass sie nicht gleich wieder aufgeben müssen. Ich würde mich übrigens auch unglaublich freuen, wenn Sie dieses Büchlein Ihren Freunden und Verwandten ans Herz legten. Nicht weil ich damit Geld verdienen will.  Ich bin ohnehin dabei, meine nicht ganz kleine Firma im Sinne von Christian Felbers Gemeinwohlökonomie in ein Unternehmen zu verwandeln, das nicht auf Gewinn angelegt ist, sondern auf einen Raum, in dem zurzeit dreißig Menschen stressfrei leben und arbeiten können. Und auf täglich schätzungsweise zweihundert Gäste, die sich bei uns wohl fühlen. Ein Teil des Erlöses aus  dem Buchverkauf geht ohnehin in die Kasse des Clubs der Idealisten, den wir hier gerade gründen.  Der eigentliche Grund, weswegen ich - in dieser Fußnote, ganz am Rande also - bitte, diesem Buch zu helfen, ist: so könnten die Inspirationen, die darin stecken, möglichst viele Menschen erreichen und sie dazu einladen, endlich ihrem Herzen zu folgen und nicht dem, was angeblich Trend ist. Bitte machen Sie mit und werden Sie auch Mitglied in unserem Club der Idealisten. Eigentlich sind Sie´s  durch den Erwerb dieses Buches ja schon. Was ich mir von Herzen, mehr als alles andere, wünschte, wäre ein Zeitung/ eine Zeitschrift/ in der nur Gutes, Inspirierendes veröffentlicht wird, gern auch etwas im Stil der Huffington Post. Das erinnert mich daran, dass ich Ihnen Arianna Huffingtons wunderbares Buch Die Neuerfindung der Erfolgs. Weisheit, Staunen, Großzügigkeit - was uns wirklich weiterbringt, noch nicht empfohlen habe ( München: Goldmann 2015).  Das sei hiermit nachgeholt.  Arianna Huffington scheint, ebenso wie ein paar andere kluge Köpfe, ein feines Gespür für den sich abzeichnenden Wandel zu haben. Und sie hat vor allem in den Staaten großen Einfluss: vielleicht gelingt es ihr sogar, dass Erfolg demnächst anders definiert wird als noch bis vor kurzem, was die interessantesten Folgen haben dürfte.    

147    „Same, same, but different“ heißt es in Ostasien für jede Art von Kopie oder Knock-off eines europäischen Qualitätsproduktes, die aus zehn Meter Entfernung vielleicht noch tupferlgleich aussieht, die sich bei näherem Hinsehen aber als Junk oder Trash  erweist. Dieser Müll kommt containerweise hier herüber, belastet uns und den Globus, wird aber immer noch gemacht, weil an den Schaltstellen immer noch ein paar ganz taube Nüsse sitzen, die den Schuss noch nicht gehört haben. Ob wir´s mal mit Zeichensprache versuchen sollen?   

148 Zum Thema Baumarkt gäbe es schon noch ein paar einschlägige Bemerkungen zu machen. Sie gehören zu den letzten Reservaten echter Männer (mit Ausnahme der Garten- und der Gardinenabteilungen vielleicht, wo auch Frauen zugelassen sind). Wäre ich GenderforscherIn, würde ich mir einen gut frequentierten Markt aussuchen, in dem ich mal einen Monat oder auch zweie undercover arbeitete,  notfalls mit angeklebtem Schnurrbart und dann hinterher ein Buch darüber schreiben.  Was meinen Sie, was da alles zutage käme!  Angeblich werden die Unterschiede zwischen Männern und Frauen  ja sehr überschätzt, ich fürchte aber, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie werden immer noch unterschätzt und vielleicht fördert es das gegenseitige Verständnis, wenn man sich das hin und wieder mal vor Augen führt.
Männer sind anders. Und das ist auch gut so. Es ist Teils des Spaßes, den man miteinander haben kann. Keine Frau von Geschmack und Bildung sollte sie umzuerziehen versuchen, sondern es einfach so hinnehmen.   
So lässt es sich zum Beispiel  nicht von der Hand weisen, dass Männer und Frauen grundsätzlich völlig verschiedene Arbeitsstile haben, die auch durchaus sinnvoll sind, die sich aber nur selten miteinander in Einklang bringen lassen.  Männer überlegen sich gern, bevor sie mit einer Arbeit beginnen, wo sie Energie sparen können. Frauen denken darüber eher selten nach: sie sind, wie unabhängige Studien inzwischen nachweisen konnten, spontaner und sie können besser improvisieren. Frauen kommen leichter auf Notlösungen, die sich dann als erstaunlich langlebig erweisen. Bekanntlich ist nichts dauerhafter als das Provisorium.  Männer sind hingegen auf nachhaltige Lösungen aus, doch das kann, wie die Erfahrung lehrt,  auch etwas dauern.  „Wenn ein Mann sagt, er repariert etwas, dann repariert er es auch. Man muss ihn nicht alle fünf Monate daran erinnern“ - dieser weise Satz leuchtet jeder Frau von Verstand und Bildung unmittelbar ein.
Deswegen wird auch die folgende Überlegung niemanden überraschen:  
Wenn Sie einer weiblichen und einer männlichen Testperson ein Bild zum Aufhängen geben - wer, glauben Sie, ist schneller fertig?  Ein Mann schaut sich die Wand an, klopft sie mit bedenklicher Miene ab wie der Doktor einen rachitischen Brustkasten und studiert danach beiden Aufhänger auf der Rückseite des tückischen Objekts. Sodann sucht er  erst mal einen Meterstab
(den man übrigens auf keinen Fall Zollstock nennen darf, will man sich nicht einem halbstündigen, erschöpfenden Vortrag zum Thema Maße und Gewichte  aussetzen). Sobald der Stab gefunden ist, was auch schon mal dauern kann, wird der Abstand der Aufhänger sehr genau vermessen. Dann stellt sich bei Durchsicht eines etwa kühlschrankgroßen mobilen Werkzeugkoffers heraus, dass just die passenden Dübel / respektive die richtigen Bohrfutter fehlen, die eine fachgerechte Erledigung dieses Auftrags unbedingt erforderlich macht. Daraufhin taucht die männliche Testperson in der Regel in den nächstgelegenen Baumarkt ab, wo sie die jeweiligen Vorteile neu entwickelter Werkzeuge studiert und sich die dazu in Endlosschleife vor sich her plärrenden Videos genau bekuckt. Die damit verbundenen  Entscheidungen und Preisvergleiche sind natürlich schwer zu treffen und erfordern verständlicherweise entsprechend Zeit. Man kann also froh sein, wenn der Alte schon nach zwei Stunden wieder daheim ist, mit glänzenden Augen und einer dieser Oberfräsen, von denen nur der Himmel weiß, wozu sie überhaupt dienen. Aber häufiger sind leider die Fälle, in denen der Herr Gemahl erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder auftaucht. Diese Zusammenhänge dürften denn auch der eigentliche Grund dafür sein, dass inzwischen vor jedem Baumarkt eine Currywurstbude eine bislang schmerzlich empfundene Marktlücke schließt. Keine vernünftige Frau würde den synthetischen Kartoffelsalat, den diese Buden üblicherweise im Angebot haben, auch nur eines Blickes würdigen. Schon weil sie die komplette Baumarkt-Aktion gar nicht braucht, jedenfalls nicht, um ein Bild aufzuhängen.
Frauen meiner Generation machen das so: sie ziehen ein Stück Schnur durch die beiden Aufhänger auf der Rahmenrückseite (notfalls auch ein Rest Geschenkband oder zwei zusammengeknotete Schnürsenkel), hämmern ( im Zweifelsfall auch ohne Hammer) einen einzigen Nagel irgendwo in die Wand - und fertig. Unser Bild hängt wie von selbst im Lot und kleine Höhenunterschiede gleicht man mit der Schnurlänge aus.
Das ist beeindruckend einfach, aber Vorsicht! Denn derlei spontane Improvisationen  haben eine Reihe ziemlich gravierender Nachteile. Auch wenn  Frauen aus evolutionsbiologischen Gründen nachgewiesenermaßen leichter Lösungen für derlei kleine Alltagsprobleme finden, sollten wir uns manchmal einfach zurückhalten und uns doof stellen.  Zu schlau dürfen wir eben auch nicht sein, weil wir nämlich so unseren Männern das Gefühl geben überflüssig zu sein. Das haben wir nun von der ganzen Emanzipation - da dachten wir schon, die Männer seien beeindruckt, wenn wir unsere Reifen selber wechseln oder mangels Rohrzange mit dem Nussknacker mal eben ein verstopftes Abflussrohr öffnen - und nun das! Ich hoffe, die nächste Generation stellt sich wieder ein bisschen blöd an und redet mit etwas piepsigerer Stimme. Die ersten leisen Töne, scheint mir, sind schon zu vernehmen.  Sich dumm stellen schafft nämlich nicht nur Freizeit.  Sich dumm stellen dürfte sich letztendlich auch auf zwischenmenschlicher Ebene positiv auswirken. Wie das? Werdet Ihr Euch jetzt fragen. Weil  ganz einfach Paare, die sich nicht wegen irgendwelcher  Bohrfutter  streiten,  öfter miteinander…..was unternehmen.   Man sieht also, der Dübel steckt auch hier, wie so oft, im Detail.  
 
149   Ich meine das übrigens ganz ernst:  schicken Sie uns Ihre eigenen Geschichten hierzu auf die Netzseite! Dann haben alle was davon. Das Ganze tut schon nicht mehr ganz so weh, wenn man weiß, den anderen geht´s genauso. Und wenn Sie mit Ironie schreiben, liest´s jeder gern: Lachen ist schließlich der beste Start zum Denken, wie Kästner sagte. Und andere zum Lachen zu bringen, gehört zu den sozialen Talenten, mit denen wir alles Antisoziale aushebeln könnten.

150     Die Begriffe „Haben oder Sein“ ,  ebenso wie „hoch- bzw. nichtproduktiv“ sind in diesem Zusammenhang erstmalig von Erich Fromm (1900-1980) in den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verwendet worden. Er war sein Leben lang von Menschen fasziniert, die ihr Potential ausleben und ihren eigenen Ideen und Idealen folgen, während andere sich im günstigsten Fall  passiv, oftmals aber auch aggressiv verhalten. In einer noch heute wegweisenden Analyse zählte er zum nichtproduktiven Menschenschlag erstens den rezeptiven Typ (der sein Schicksal passiv erträgt und tatenlos hinnimmt, was ihm geschieht), zweitens den hortenden, im wesentlichen durch Geiz und Gier charakterisierten „Besitzstandwahrer“,  drittens den Ausbeuter  und viertens den Manager, der aus allem eine Ware macht. Und dabei auch sich selbst verkauft.  Fünftens sieht er noch den nekrophilen Faschisten, der eigentlich nur zerstören kann - die kursiv gesetzten Begriffe sind übrigens von Fromm genau so gewählt.
In seiner humanistischen Psychologie zeichnet er das Idealbild des produktiven Menschen. Sobald aber die Nichtproduktiven die Macht übernehmen, geht das Licht aus, so seine These.
Das gilt heute ebenso wie damals. Eine wunderbare Einführung in Fromms Denken ist übrigens vor einiger Zeit im Zürcher Diogenes Verlag erschienen (Die Kraft der Liebe: Über Haben und Sein, Liebe und Gewalt; Leben und Tod. Zürich: Diogenes 2014) (Für den Fall, dass Sie sich fragen sollten, warum ich so wichtige Informationen in einer Fußnote „verstecke“,  sei  an dieser Stelle angemerkt,  dass in den Anmerkungen dieses Buches überhaupt ein paar ziemlich wichtige Sätze stehen - die gar nicht alle in den Haupttext passen.  Ich gehe aber davon aus, dass kluge Köpfe sie hier ohnehin entdecken und sich einen Reim darauf machen.)    

151       „Die Geschichte lehrt, dass die Geschichte nichts lehrt“ sagte Franz Werfel einst. Außerdem fügte er hinzu, dass sie sich wiederhole „wie das Wochenmenü einer kleinbürgerlichen Hausfrau“ ( in Stern der Ungeborenen, Werfels letzten Werk; er starb wenige Tage nach dessen Vollendung.)
 
152  Schreiben Sie übrigens ruhig dem einen oder anderen  Autor, dessen Werk Sie bewegt hat. Autoren, jedenfalls die meisten von ihnen,  freuen sich immer  über ein Lob aus berufenem Munde. Dann weiß man nämlich, wofür und für wen man geschrieben hat. Die Verkaufszahlen allein sagen über den Wert eines Buches nichts aus - das Lob unserer Leser ist für uns weitaus wichtiger, weil es zu den intrinsischen Motivationen gehört, die im Gegensatz zu den extrinsischen (von außen kommenden) Anreizen in uns selbst liegen. Anerkennung zum Beispiel ist eine intrinsische Motivation, Geld und Ruhm aber sind extrinsisch: die Psychologie hat diesen feinen Unterschied schon seit einer ganzen Weile erforscht, aber glauben Sie ja nicht, dass man sich in der Wirtschaftswissenschaft von derlei neuen Erkenntnissen beeindrucken ließe:  einem ökonomischen Dogma zufolge ist der homo oeconomicus nur durch Geld zu motivieren. Was tagtäglich weltweit zu Milliarden von Fehlentscheidungen führt. Ich darf gar nicht drüber nachdenken.
        
153  So wurden im Herbst 2012 - um nur ein paar wenige, zufällig ausgewählte  Beispiele zu nennen -  gleich zwei Außenseiter zu Bestellern:  Stephen Greenblatt: Die Wende - Wie die Renaissance begann. (Berlin: Siedler 2012) und Adam Zamoyski und Ruth Keen: 1812. Napoleons Feldzug in Russland (München: C.H.Beck, 2012).  Auch mit dem großen Erfolg von Christopher Clarks hat so gut wie keiner gerechnet:  Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. (München: DVA. 2014). Vergessen wir auch nicht den sehr überraschenden Erfolg der Letters of Note, einer Sammlung berühmter Briefe, die der Heyne Verlag im Herbst 2014 herausbrachte und die sofort vergriffen war - über siebzig Millionen Menschen waren auf der Website dazu unterwegs, man stelle sich das einmal vor! Dabei denkt man doch, dass sich mit etwas so Langweiligen aus prädigitaler Urzeit kein Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken lässt - aber da sieht man eben, wie man sich täuschen kann.

154    Die Buchpreisbindung ist auch unabhängig davon, wie diese TTIP Geschichte ausfällt, in Gefahr.  Denn seit sich unsere Regierungen - ohne Not und ohne unseren demokratischen Auftrag wohlgemerkt  - dem Diktat eines neoliberalen Marktes unterworfen haben, ist auf nichts mehr Verlass.  Dieser Markt hat es immer mächtig mit angeblich die Chancengleichheit gefährdenden „Wettbewerbsverzerrungen“, versucht tatsächlich aber nur einem brutalen Verdrängungswettbewerb Tür und Tor zu öffnen, indem er den Staat daran hindert, irgendwelche Marktsegmente direkt oder indirekt zu subventionieren. Denn diese Gelder gehen schon wieder vom Gewinn ab, den ein Quasimonopolist hier machen könnte - wir wissen inzwischen ja alle, wie der Hase läuft.  
Der Himmel bewahre uns vor einem Buchmarkt, auf dem nur noch die Dominik K.s  ansagen, was gemacht wird und was nicht! Bücher sind der Schlüssel zu unserer Zukunft - und wenn der Markt uns vorschreibt, wo wir entlang denken dürfen,  kommt alle Hilfe zu spät. Denn dann wird nur noch das Billige gemacht, das Banale. Und vor allem das Zensierte.  Dabei wäre die Lösung relativ einfach: der Markt kann mit seinen pseudodemokratischen Kontrollinstanzen diese Macht nur ausüben, weil wir sie so bereitwillig akzeptieren und die demokratische Legitimation nicht in Frage stellen. Wenn wir uns davon aber nicht ins Bockshorn jagen lassen, können die Burschen  gar nichts machen - nach dem Motto: stell dir vor, die Preisbindung fällt und keiner macht mit.
Vielleicht könnte  der Börsenverein des deutschen Buchhandels seinen Mitgliedern zu Weihnachten mal eine Trillerpfeife verehren. Damit wir alle ganz einfach auf die internationale Plattmacher & Co.KG pfeifen. Das würde Eindruck machen! Vielleicht könnten wir auch an die Privatadressen der Bulldozer, die unsere Kultur zu zerstören versuchen, auch ein paar Müllsäcke schicken: damit sie ihre destruktiven Pläne in die Tonne hauen können. Die Welt lässt sich auch mit ein paar guten Metaphern retten…. Wir werden uns von diesen Analphabeten doch nicht vorschreiben lassen, wie unsere Kinderbücher demnächst auszusehen haben! Wäre ja noch schöner.     

155  Die „Indies“ stehen für „independent publishing houses“ bzw. auch „bookstores“, für jene Dickköpfe also, die sich Gott sei Dank ihre Unabhängigkeit bewahrt haben.  Es gibt inzwischen einen Indiebookday (26.März), der blauäugig davon ausgeht,  dass wir gegen die großen Konzerne eine Chance haben. Die Assoziation „Indies“ und Indien dürfte bei der Namensgebung mitgespielt haben: als „indies“ haben wir etwas definitiv Dritte-Welt-Haftes, was gar nicht so schlecht ist, denn gerade Indien erfreut sich allgemein größter Wertschätzung.     

156 Werner Siefer ist Biologe und Wissenschaftsjournalist, der unter anderem  für den Focus und die Süddeutsche Zeitung arbeitet. In seinem Buch Wir - und was uns zu Menschen macht ( Frankfurt: Campus-Verlag 2013) entzaubert er nicht nur den Mythos des Survival of the fittest, er entwickelt außerdem eine ganz eigene und sehr schlüssige Idee zur Rolle der Großeltern in der Geschichte menschlicher Evolution.  Und das ist in der einschlägigen Literatur ganz und gar einmalig. Auch Siefers neues Buch Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt. München: Hanser 2015 sei Ihnen hier sehr empfohlen: hier weist er sehr anschaulich nach, wie alles Erzählen eine Gesellschaft und ihre Werte formt.  Womit er natürlich jedem Buchhändler aus der Seele spricht.

157  Polonius sagt ´s im ersten Akt des Hamlet, nur leider ereilt den Bedauernswerten kurz darauf ein eher ungnädiges Schicksal, so dass sich letztlich nicht entscheiden lässt, ob es  Shakespeare mit der Sache nun ernst war oder nicht. Bei Hamlet selbst ist das schließlich auch nicht so ganz eindeutig. Da die Sache bekanntlich äußerst tragisch endet, gehe ich nicht weiter darauf ein, weil die Geschichte ohnehin nicht in mein von schon fast pathologischem Optimismus geprägtes Weltbild passt.

158  der übrigens aus Gründen, über die noch zu berichten sein wird, unbedingt anonym bleiben will.

159  Am Abend zuvor haben sie vielleicht noch die eine oder andere Schöne, die sie am oben näher beschriebenen Tresen noch mit dem Satz „Business allein hier?“ auf einen Schampus eingeladen. Gut, das ist jetzt zwar nur eine Vermutung, aber ich wette, dass ich damit gar nicht so falsch liege.

160 Tatsächlich ist die gefährliche Toleranz, die wir unseren Banken auch nach der großen Krise gewähren, etwas, das geändert gehört: die Isländer haben uns gezeigt, dass das sehr gut geht - und haben ihre kleine Insel wieder in so etwas wie  ein Musterländle verwandelt. Wir hingegen? Tja.  
Unlängst las ich einen Artikel  von kaum zu überbietender  Schnöselhaftigkeit in der Zeitung. Deutschland fehle es an Gründern, hieß es darin. Denn offensichtlich seien „wir“ bequem geworden, ein einig Volk aus Stubenhockern,  Langweilern und Dumpfbacken.  Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Art von billiger Kritik an „den Deutschen“ nervt und an diesen ewigen Verallgemeinerungen, die einem den Blick dafür verstellen, dass die Dinge ganz anders zusammenhängen.
Denn tatsächlich wird uns überall der Geldhahn zugedreht, das sieht selbst ein Blinder mit dem Krückstock. Allein schon deswegen brauchen wir uns  derlei Kommentare nicht gefallen zu lassen!
Und da wir schon einmal dabei sind: im zweiten Band des Handbuchs verrate ich Ihnen einen wunderbaren Trick hierzu. Man versuche einmal ohne Kredite zu arbeiten. Das geht durchaus, wenn auch leider nicht in jeder Branche. Man fängt eben etwas kleiner an, lässt konsequent alles Geld in der Firma,  konzentriert sich auf das, was man tut - und siehe da: die Firma wächst und gedeiht aufs schönste. So habe ich´s seit dreißig Jahren immer gemacht. Und ich habe jetzt auch keine ganz kleine Firma ( vergleiche hierzu auch Fußnote 253.)   

161 Über die Einschüchterungsvokabeln, mit denen man uns in Politik und Wirtschaft allen Schneid abkauft, wäre schon noch das eine oder andere anzumerken. So tut man uns zum Beispiel, die Vernünftigen,  gern als Chaoten ab, als Traumtänzer, gern  auch als Fortschrittsverhinderer. Solche Wörter legen Meinungen fest, sogar die der Wortschöpfer: schließlich glauben sie selber daran, dass zu den „Exzellenzinitiativen“,  die unsere vermeintlich innovationsfreudigen Volksvertreter allenthalben gründen, auf keinen Fall Chaoten wie wir Zutritt haben dürfen. Es  gibt unter anderem (steuerfinanzierte) Konferenzen, die sich der „Zukunft der Pflanze“ widmen, zu denen aber nur Genforscher und ihre Lobbyisten geladen werden, nicht aber Vertreter biologischen Landbaus - um nur ein Beispiel von Dutzenden zu nennen, was die Experten alles zu verhindern wissen: keine einzige Zivilgesellschaft, keine einzige Umweltschutzorganisation darf bei den ( ich sag´s noch mal:  steuerfinanzierten ) Zukunftswerkstätten dabei sein.  
Will sagen: wir, die Chaoten, haben absolut kein  Mitspracherecht. Nicht bei den Forschungsagenden. Nicht bei den Etatvergaben und anderen Interna. Eine völlig fehlgeleitete, abgehobene politische Clique will  uns einfach  nicht dabei haben.   Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber  mir raubt allein dieser  Gedanke zuweilen den Schlaf.
 Besonders schlimm ging es mir, als ich unlängst las, dass man sich in einer Reihe dieser Exzellenzintiativen  über eine Verdreifachung des Flugverkehrs (!)  geeinigt hat. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit natürlich. Kein einziger Umweltschützer, kein (unabhängiger ) Klimaexperte war geladen. Wir, die Störenfriede, müssen draußen bleiben.  Wer sich die Teilnehmerlisten genau bekuckt, wird darauf Namen finden, die er kennt: Banker, die 2007 Milliarden in den Sand gesetzt haben, mischen da mit - dieselben (s.o.) Finanzakrobaten also, denen wir die bislang größte Pleite der Geschichte zu verdanken haben. Greenpeace aber darf nicht rein. Da soll doch einer.
 

162 Michel Ayme, französischer Musiker, Komponist und Regisseur.

163  Ich würde mir sogar den Dackel als Wappentier erkiesen, sollte ich mal in die Lage kommen,  von der Queen zum Beispiel geadelt zu  werden. Doch das ist leider nicht sehr wahrscheinlich. Die Queen hat da auch sehr enge Vorgaben: so musste sie den bereits weiter oben erwähnten Drachen in den Adelsstand erheben, der mit seiner Beton-Frisur und seinen ebenso festgefügten (neo-liberalen) Glaubenssätzen lange Zeit ganz Europa zu terrorisieren wusste. Ich nenne hier keine Namen, höchstens einen passenden Spitznamen: Maggie Messer. Dass diese Dame noch im November 1989 zu Gorbatschow nach Moskau reiste und dort mit dem Regenschirm auf den Tisch schlug, um die Wiedervereinigung zu verhindern -  das, liebe Leser,  nehme ich ihr echt übel. Plus die mutwillige Zerstörung des zweifellos schönsten Eisenbahnnetzes der Welt, die wir hierzulande natürlich gleich nachmachen mussten.  Darüber ist unser wunderbarer Vater (leidenschaftlicher Eisenbahner) auch nie hinweggekommen.  
 
164 Diese Dachterrassen sind übrigens eine Lindauer Besonderheit. Sie werden - nicht ganz korrekt - als Altanen bezeichnet. Ihren glücklichen Besitzern eröffnen sie die ungewöhnlichsten  Aussichten auf eine zauberhafte Altstadt, der sie ein fast schon mediterranes Flair geben.  Ursprünglich dienten diese Terrassen jedoch nicht eitlem Müßiggang und auch nicht der Anzucht von Basilikum für die Insalata Caprese, sondern dem gottgefälligen Zweck des Wäschetrocknens. Ich habe das große Glück, eine solche Altane benutzen zu dürfen - sie befindet sich  über dem Dachkämmerchen, das mir meine Vermieterin freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Hier, in meinem Elfenbeintürmchen,  habe ich  See- und Bergblick, eine Drei-Sterne-Aussicht also, für die ich gern die unbestreitbare Tatsache in Kauf nehme, dass es darin zieht wie Hechtsuppe. Ohne eine Wärmflasche ist, wie gerade jetzt im Dezember, der Aufenthalt in diesem Gelass kaum zu ertragen. Dafür ist es im Sommer schön warm.  Aber der Blick von hier oben  ist all die Mühe wert und veranlasst mich zuweilen zu der Überlegung, ob ein höherer Standpunkt nicht tatsächlich neue Perspektiven eröffnet: wer zum Beispiel auf den Lindauer Leuchtturm klettert, was sehr empfehlenswert ist, steht über den Dingen und sieht plötzlich so viel Neues, das vorher nicht da zu sein schien. Kreative Profis wissen das: es bringt jedes Mal etwas,  die Perspektive zu wechseln. Und Lindau ist der ideale Ort dafür. Denn hier gibt es nicht nur den Leuchtturm - sondern auch jede Menge Berge, auf die ich als überzeugte Plattdeutsche persönlich zwar nicht so stehe. Aber sie erfüllen eine ähnliche Funktion: sie bringen uns auf völlig neue Ideen.  
 
165   Die Infoblase ist ein noch ziemlich neues Wort, das sich auf einen hochseltsamen Effekt bezieht -  nämlich darauf, dass sich das Internet nicht für jeden gleich darstellt. Wie das?, werden Sie jetzt sicher fragen. Ich war selber erstaunt, als ich vor nicht allzu langer Zeit davon hörte. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr: wenn Sie auf Ihrem Rechner ein Stichwort eingeben und ich auf meinem exakt das gleiche, bekommen wir unterschiedliche Antworten - die Gewichtung hängt nämlich von unseren zuvor entstandenen Suchverläufen ab. Das ist ein Gedanke, über den man schon ins Philosophieren geraten könnte… Meine  Kollegin Angela Roeder erzählte mir unlängst, dass sie bei einem Besuch bei einem ihrer zahlreichen Cousins auf eben dieses Thema zu sprechen kam. Woraufhin er den schönen Satz prägte: „Wozu immer googlen? Man kann genauso gut auch brockhausen.“ Brockhausen wir also hin und wieder! „Be a little analog“, das schlägt auch Julius Hendricks vor (München:Thiele 2015) und dieser Julius ist - wohlgemerkt - etwas über zwanzig. Also kein alter Knochen, der in nostalgischen Erinnerungen an jene schöne Zeit schwelgt, da „wir zum Surfen noch ans Meer gefahren sind“, wie ein gerade eben bei Kiwi erschienenes Buch titelt…
 
166    Das allein hat sie mir immer sehr sympathisch gemacht! Denn alle Mathematik mag ja vielleicht ganz nützlich sein, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Auch geometrische und sogar physikalische  Grundkenntnisse halte ich für überaus praktisch, schon weil sie einen daran hindern, Regale (zum Beispiel) zusammenzudrallern, die dann nicht halten, was sie versprechen. Ich habe also nichts gegen Zahlen an sich. Ich habe auch nichts gegen Haare, wo man sie natürlicherweise erwarten darf. Auf dem Kopf zum Beispiel. Vor mir aus auch auf anderen Teilen der Anatomie, obwohl  sie mich auf weiblichen Unterschenkeln schon sehr stören. Auch Haare auf den Zähnen sind unschön. Zahlen, die da auftauchen, wo sie ganz und gar nichts zu suchen haben, nerven allerdings noch viel mehr!

167   bias bezieht sich in seiner Grundbedeutung eigentlich auf alles „Schiefe, Schräge“ ( vgl. französisch biais= schief).  Auf solchen Ebenen schlittert man ganz leicht schon mal in Lagen, aus der nur eine eingeschränkte Sicht auf die Wirklichkeit möglich ist: daher versteht man unter bias das Vorurteil, die sichtbehindernden Tomaten auf den Augen sozusagen.

168    Das Interesse der Verhaltensökonomen ist allerdings nicht ganz selbstlos -  in den Werbeabteilungen rings um den Globus will man nämlich ganz einfach mehr darüber wissen, woher unsere spontanen (Kauf-) Entscheidungen stammen bzw. auch  wodurch sich unsere intuitive Ablehnung erklärt. Dafür zahlen die Auftraggeber eine ganze Menge Geld, aber sie haben es ja. Klingt eigentlich harmlos: Verhaltensökonomie. Tatsächlich werden Psychologen dafür bezahlt, dass sie den Werbefachleuten Infos bieten. Zum Beispiel die weltbewegende Erkenntnis,  dass wir logischen Verkaufsargumenten tatsächlich weniger Gewicht beimessen als der Frage, ob der Verkäufer uns sympathisch ist.  Die (intern) so genannte „Buyology“ ist im Grunde die Wissenschaft der Verführung. Das klingt bedrohlich nach Big Brother und tatsächlich versuchen uns die Jungs im Verein ihren Hiwis auch auszuspionieren, um dann das ganz große Geld machen zu können. Aber seien Sie getrost: diese von falschen Motiven geleiteten  Intelligenzbestien sind gar nicht fähig, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Obwohl sie inzwischen über  glasklare Beweise dafür verfügen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen  intuitiv sozial zu handeln versucht - sie erkennen es nicht mal.  Sie sind nämlich selber Opfer eines Effekts, den sie entdeckt zu haben glauben - des False-consensus-Effekts: sie schließen leider von sich auf andere. Da sie diese Dollarzeichen im Auge haben, denken sie, geht es anderen ebenso. Ganz schlimm wird es übrigens, wenn ein paar dieser Strategen  dann noch ein paar halbgare Artikel oder gar Bücher zu dem Thema schreiben und es mit den Quellenangaben nicht ganz so genau nehmen.  Ich könnte Ihnen ein paar Beispiele nennen, doch das verbietet mir leider der Anstand. Eine gute Kinderstube schließt einen eben von so manchem aus.

169  Einer dieser Verhaltensökonomen beschrieb unlängst in einem (internen) Newsletter, wie schwierig es ist, den Auftraggebern dieser Studien die Frohe Botschaft zu vermitteln, dass man sich leider jahrzehntelang im Irrtum befand, was die grundsätzliche Natur des Menschen betrifft. Der homo oeconomicus, erklärte er,  ist tatsächlich ein Fabelwesen, das in freier Wildbahn nicht häufiger anzutreffen ist als ein Wolpertinger. Doch das will im Grunde keiner hören, denn dann müsste man ja umdenken. Und ein paar zu cholerischen Ausfällen neigenden Alphatiere darüber ins Bild setzen, was man lieber unterlässt. Also schaut man weg und stellt lieber das ganze Projekt ein oder kauft  sich neue Wissenschaftler, die das altgewohnte Weltbild nicht übern Haufen werfen. Weswegen gerade in der Verhaltensökonomie jetzt wieder die Parole ausgegeben wurde: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“
Aber es gibt auch ein paar mutige Verhaltensökonomen wie den bereits oben erwähnten Dan Ariely, der auf die positive Eigendynamik ihrer durchweg optimistisch stimmenden Forschungsergebnisse setzen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freut: da suchen diese Teufel nach neuen wissenschaftlichen Methoden der Beeinflussung und plötzlich, siehe da, stellt sich das Gegenteil von dem heraus, was man gern hätte. So ist auch einer der einflussreichsten Werbefachleute der USA, Martin Lindstrom, vom Saulus zum Paulus geworden. Als das auch unter der unheimlichen Bezeichnung Neuromarketing lancierte neue Werbekonzept großer Marken propagiert wurde, hatte Lindstrom die Nase voll: er schrieb die (im Frankfurter Campus-Verlag veröffentlichte) Buy-ology: warum wir kaufen, was wir kaufen und etwas später  Brandwashed: was du kaufst, bestimmen die anderen ( ebd. 2013). Auch in den noch nicht ins Deutsche übersetzten Büchern Brandchild - hier geht es um die Tricks, mit denen Kinder süchtig gemacht werden sollen - und Small data  leistet Lindstrom Aufklärungsarbeit. Man kann vor so viel Courage nur den Hut ziehen. Lindstrom verdient mit diesen Büchern garantiert nicht soviel Geld wie einst als Werber. Aber ich glaube, es war ihm wichtiger, sich selber treu zu bleiben. Heute ist er als gefragter Trendforscher unterwegs - als Brancheninsider hat er Einsichten gewinnen können, die sonst niemand hat. Außerdem erzählt er Geschichten, da schlackern Ihnen bloß die Ohren!    
   
170 Deswegen sind unsere zehn ( lat.decem/ decimus) Finger denn auch der Grund dafür, dass wir noch heute ein „Dezimalsystem“ haben, auf dem u.v.a. nicht nur alle Prozentrechnerei sondern auch jede DIN-Norm beruht, jede Schraube und letztendlich unsere schöne neue digitale Welt ( vgl.digitus lat. Finger).   Nur die Angelsachsen sind auf das Dutzend verfallen (was vielleicht mit dem Kalenderjahr zu tun hat), sowie auf eine Reihe anderer esoterischer Maße und Gewichte, vom inch, über den foot  und den  Yard zu diversen miles, die verwirrenderweise noch in See- und andere Meilen zu unterscheiden sind, weil wir ja sonst nichts zu tun haben. Vollends den Vogel haut es einem  jedoch  bei den Cups heraus, auf denen jedes angelsächsische Rezept beruht, so dass bei aus dem Englischen übersetzten Kochbüchern auch schon mal hundertsiebenundsechzig Gramm Mehl kommen, die man für ein Muffinrezept braucht, neben zweihundertfünfundvierzig Gramm melted butter und dreihundertachtundsiebzig Gramm Schokolade. Dann braucht man nur noch ein  knappes Kilo Philodendron-oder-wie-er-heißt-Frischkäse hinzuzugeben und schon hat man die Muffins, die in etwa so gut verdaulich sind wie eine Kanonenkugel, zumindest fühlt es sich so an.   Mein Tipp - vergessen Sie derlei Rezepte ganz einfach. Kulinarisch gesehen ist ohnehin noch nie etwas Gutes auf angelsächsischen Boden gediehen und diese Muffins sind ohnehin die Pest.  
Außerdem können Sie - ungelogen - von hundert Gramm dieser Kleistermasse spontan ein Pfund zunehmen. Das ist nicht besonders logisch, aber leider wahr. Warum das so ist, darüber denke ich schon lange nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn Sie diese schlichte Erfahrungstatsache erklären können, schreiben Sie mir ganz einfach.  

171     Römischen Zahlen sieht man noch an, dass sie zunächst für eher grobe Werkzeug entwickelt wurden: I, II, II, V, X, L, M - mit Ausnahme von C lässt sich alles leicht einmeißeln. Das kriegt notfalls auch ein Grobmotoriker hin. Dass die (Spät-)Antike noch gar nicht so lange vorbei ist, merkt man noch heute an Ausdrücken wie „Jemandem ein X für ein U vormachen“. Das U - eine durchaus übliche Schreibvariante für die lateinische Fünf (V) -  ist etwas ganz anderes als ein X ( das lateinische Kürzel für zehn also). Wer des Lesens nicht mächtig war, was im finstren Mittelalter ja eher zum Standard gehörte, den konnte man eben leicht übers Ohr hauen. Man sieht also: Bildung hilft, wenn es darum geht, sich nichts vormachen zu lassen. Immer schön nachdenken, genau hinsehen, und notfalls den Bösewichtern Daumenschrauben anlegen, sonst kriegen wir die Sache nie in den Griff!  Hier noch eine  Anmerkung zur Anmerkung:  jenseits des Limes bestand das Kerbholz ( der besseren Haltbarkeit wegen) aus harter Buche. Daraus wurden dann - ta ta! - unsere Buchstaben und schließlich das Buch selbst (obwohl es zurzeit ein paar Linguisten gibt, die das bezweifeln). Die Antike ist also allgegenwärtig, das Mittelalter dito und wer sich hin und wieder mit (Sprach-)Geschichte beschäftigt, wird finden, dass sie ein oftmals verblüffend neues Licht auf die Dinge wirft.

172     Das ist auch der Grund dafür, warum ich in einer meiner Buchhandlungen hier in Lindau, dem „Gutenberg-Laden“, der auf Buch- und Schreibkunst spezialisiert ist, eine Papyrus-Pflanze stehen habe. Den Kindern, die kommen, erkläre ich das immer sehr gerne. Ich zeige ihnen auch,  wie man(mit einem stilus) auf echten Wachstafeln, wie die Römer sie hatten, schreibt. Die Bezugsadresse für solche historischen Schreibmaterialien verrate ich Ihnen gern. E-Mail genügt: info@altemoellersche.de
   
173  So ist das immer! Erst bastelt sich einer ein Schnitz- oder Frühstücksmesser, schon macht einer eine Waffe daraus!  Erst kommt die Radioröhre, dann der Volksempfänger. Erst die Lottofee und jetzt Dieter Bohlen und DSDS. Und das nennt sich dann Fortschritt.  Man sollte eigentlich gar nichts mehr erfinden. Oder doch, ja, ein Banausen-Detektor wäre nicht schlecht. Damit man die Dominik Ks. gleich lokalisieren und isolieren kann, bevor sie noch mehr Blödsinn anstellen.
 
174      Am besten lösen übrigens Gruppen derlei komplexe Aufgaben: der Mittelwert aus sämtlichen Schätzungen einer Reihe von Menschen trifft die tatsächliche Zahl fast immer ziemlich präzise, während angebliche Spezialisten sich so gut wie immer verhauen und meilenweit danebenliegen. Darüber ist in den leider, leider noch allzu seltenen Büchern über Schwarmintelligenz mehr zu erfahren, vor allem in dem Standardwerk dazu: Len Fisher Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen. Eichborn  Verlag, 2010. Warum es so wenig Literatur zu diesem Thema gibt, liegt vielleicht daran, dass der „Masse“ bisher niemand allzu Vernunft zugetraut hat, weswegen von dieser  „Masse“ auch stets mit unverhohlen negativem Unterton die Rede ist. Dass „Massen“ sich von Demagogen und Werbern verführen lassen, die sich den Anschein von Anständigkeit geben, ist kein Beweis dafür, dass diese Masse dumm ist, wenn auch etwas zu vertrauensselig: sie hat einfach  nicht Phantasie genug sich vorzustellen, dass sie vielleicht ausgenutzt werden könnte. Und doch hat sie in der Regel mehr gesunden Menschenverstand,  als man ihr zugesteht - oder lehne ich mich mit dieser intuitiven Annahme zu weit aus dem Fenster?
Immerhin befinde ich mich mit dieser Hypothese in guter Gesellschaft: seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist von der „Tragik der Allmende“ die Rede, das heißt von dem angeblich egoistischen Umgang mit dem, was allen gehört. Daraus glaubte man die Pflicht, die Allmende zu privatisieren, ableiten zu dürfen. Nun hat aber die amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom (1933-2012) nachweisen können, dass Gemeinden durchaus vernünftig mit dieser Allmende umgehen, wenn man sie lässt. Die Umweltökonomin Ostrom hat also ein altes Vorurteil abgeschafft und wurde dafür 2009 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Wenn das nicht zu Hoffnung Anlass gibt.   

175     Unsere sozialen Fähigkeiten sind ohnehin nur auf überschaubare Gruppen von Menschen ausgelegt.  Ethnologen gehen  davon aus, dass wir - je nach Weltgegend - zu durchschnittlich zehn bis maximal fünfzig Personen nähere Beziehungen aufbauen. Deswegen spenden wir gern für die Tombola unserer Gemeinde, schämen aber uns irgendwie, wenn wir uns selbst dabei erwischen, dass wir für ein Brunnenprojekt in der Sahara nicht mit derselben Begeisterung bei der Sache sind.  Wir sind in unserem Sozialverhalten nämlich  ganz eindeutig auf kleinere  Gesellschaften von Clan-Stärke programmiert - mehr Plätze sind in unserem Herzen irgendwie nicht zu vergeben. Nur Ausnahmemenschen vom Format eines Gandhi, einer Mutter Theresa, eines Nelson Mandela haben ein so großes Herz, dass auch Hunderte, wenn nicht Tausende darin bedacht werden können. Normalsterbliche wie wir neigen wir jedoch dazu, Stressgefühle schon  zu entwickeln, wenn zu viele Menschen um uns herum sind, vor allem welche, die wir nicht kennen. Quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, dass wir für alle da sein sollten, dass wir allen gegenüber diese umfassende Menschenliebe entwickeln müssten, die feinsinnige Menschen sich abverlangen, denn das ist gar nicht zu schaffen. Tun Sie ganz einfach das, wofür unser Gehirn gemacht ist.  Wenn nämlich jeder von uns wirklich  die zwanzig, dreißig  Menschen verwöhnt, die wir als unseren Clan betrachten, hätten wir im Nu sämtliche Probleme im Griff - einschließlich der in der Sahara. Wenn wir es fertigbrächten, so eine Art Schneeballsystem des Guten zu etablieren, wäre alles gewonnen!

176    Ulrich Frewels Beobachtungen stimmen übrigens ziemlich  genau mit meinen eigenen überein.  Seine Deppenquote - die eigenwillige Begriffsbildung geht natürlich auf sein Konto -  ist meines unmaßgeblichen Erachtens in Großstädten höher, tendiert auf dem Land aber gegen null. Als Faustregel kann man wohl sagen, dass sich die Quote umgekehrt  proportional zum Grünflächenanteil verhält (das heißt: je weniger Bäume, desto mehr Derangierte - die Korrelation ist leider nicht zu übersehen). Immerhin habe ich das Vergnügen zu vermelden, dass eine kaum noch messbare Deppenquote (maximal 1: 1000) vor allem für  Buchhandlungen und Bibliotheken, Museen, Konzertsäle etc. charakteristisch ist,  kurz: für all die bevorzugten Biotope echter Idealisten und der ihnen wesensverwandten Bildungsbürger. Von tausend Besuchern ist also gerade mal  einer dabei, der in die Buchhandlung marschiert und fragt, ob es hier auch Schneekugeln gibt.  

177 Die Mainau ist nur einen Steinwurf von der fast ebenso schönen Insel im Bodensee entfernt, auf der die Autorin dieser Zeilen  seit einigen Jahren lebt und arbeitet. Sie ist allein schon ein Grund, um immer wieder hierher zu kommen - mindestens zur Tulpenblüte im Frühjahr und wenn möglich, bitte, auch noch, wenn die Rosen blühen ( Ende Mai bis zum eigentlichen Saisonbeginn Mitte Juli.) Von da aus ist´s nicht weit nach Konstanz, dem zauberhaften Arenenberg  und der schönen, stillen Reichenau ganz zu schweigen. Auch Meersberg und der Überlinger See lohnen einen Besuch, Friedrichshafen lockt mit Zeppelin und einer wunderbaren Promenade. Und Lindau erst!  Der See, die Berge und all die schönen weißen Schiffe der Bodenseeflotte, mit denen man den ganzen Tag kreuz und quer übers Wasser schippern kann und Apfelstrudel essen ….Glauben Sie mir, es ist himmlisch hier bei uns am See. Warum packen Sie nicht einfach Ihre Badehose ein und fahren los? „Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen“, befand Lichtenberg einst und er hat auch hier, wie immer recht.   

178     Ich wähle hier ganz bewusst ein schönes altes Wort für Ableger, weil mir das märchenhafte „Reis“ in diesem Zusammenhang passender erschien: der See mit seinen zauberhaften Inseln und dem wunderschönen Hinterland hat etwas Archaisches, das die Seele anrührt wie etwas lang Vergessenes. Die sanften Hügel, die grünen Matten, die unglaublichen (und übrigens gänzlich kostenlosen)  Vogelkonzerte im Frühjahr - all das kann einem schon deutlich machen, was wirklich Luxus ist. Die meisten, die diese Zeilen lesen, wissen es ohnehin - weil sie Armut und Reichtum, Vergnügen und Leidenschaft und noch so einiges mehr völlig anders definieren als die Realisten. Was zweifellos der Grund dafür ist, dass wir uns nie wirklich verstehen werden. Realisten und Idealisten passen eben einfach nicht zusammen.

179     Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier angemerkt, dass weder Ulrich Frewel  noch ich  zu einer esoterischen Begrifflichkeit neigen. Wenn Ulrich hier also von dem „miesen Karma“ spricht, das vielen Produkten aus Billiglohnländern, vor allem aber aus Bangladesh stammenden Textilien anhaftet, so versucht er nur dieses tief in uns allen sitzende, nicht genau definierbare Unbehagen zu umschreiben, das vernünftige Menschen hierbei empfinden. Wir sind nämlich alle mit einen Grundbedürfnis nach Fairness und Gerechtigkeit ausgestattet. Auch das ist eine der so genannten bottom-up Verbindungen, wie die Neurowissenschaft die evolutionsgeschichtlich uralten Reflexe nennen, die im unteren Teil unseres Hirnkastens zuhause sind und uns meist kaum noch bewusst sind, nach denen wir aber ständig handeln - die Spieltheorie hat das eher zufällig (und im Grunde gegen die Absicht ihres Erfinders) bewiesen. Heute weiß man: wer im Spiel Fairness walten lässt, ist langfristig immer der Gewinner. Und auch wenn einzelne unmoralisch Handelnde sich kurzfristig Vorteile verschaffen können, trägt zum Schluss stets die moralisch korrekt handelnde Gruppe den Sieg davon. Das haben  Tausende von  Spielen eindeutig bewiesen, seit der bereits obenerwähnte John Nash - den man aus dem großartigen, wenn auch sehr verstörenden Film A Beautiful Mind kennt - damit angefangen hat ( vgl. u.a. Johan Huizinga: Homo ludens. Reinbek: Rowohlt 2010) An der Jeans für zehn Euro haftet also etwas Ungutes, Ungerechtes, das uns bedrückt, weswegen sich anständige Menschen hier inzwischen Vermeidungsstrategien zurechtgelegt haben - sie umgehen die Schrotthändler weiträumig und entsorgen kurzerhand - ungelesen wohlgemerkt  - auch sämtliche Reklameblättchen. Das ist gut, aber vielleicht sollte den Werbern endlich mal jemand reinen Wein einschenken. Ich selber verkaufe seit fast fünfzehn  Jahren nichts, absolut nichts mehr, was aus Billiglohnländern importiert wird.
Haben Sie noch einen Moment Zeit? Dann erzähle ich Ihnen gern die Geschichte, die dazu gehört. Im Frühjahr 1997 traf in einem meiner Läden eine Lieferung mit Kinderdecken ein, aufwendig gequilteten Spiel- und Krabbeldecken,  die sich in der Kinderbuchabteilung eigentlich ganz hübsch ausnahmen - „Non-Books“ waren im Buchhandel gerade das Thema, sind es heute noch. In diesem handgearbeiteten Quilt entdeckte ich, wie es der Zufall wollte, eine feine Nähnadel, die die Schöpferin dieses kleinen Kunstwerks dort vergessen hatte. So etwas passiert leicht, wenn man müde wird und einem die Augen zufallen.  Die Nadel war ein Schock - sie war nicht nur rostig nach der langen Seereise, sie war auch blutig: es haftet also wirklich und wahrhaftig Blut an diesen Dingen, vor allem an denen, die hier das Etikett „Echte Handarbeit“ bekommen. Seit diesem Tag im April 1997 ist alles anders: ich beschloss, nichts mehr zu verkaufen, was irgendwie in Verbindung mit Kinderarbeit stehen könnte und anderen Formen moderner Sklaverei. Ich besann mich auf mein Kerngeschäft mit Büchern und kaufte auch  nichts mehr von Verlagen, die von Kinderhänden Briefchen, Schleifchen und anderen Killefitt in Bücher kleben, die unsere  Kinder dann lesen sollen - und siehe da: keiner meiner Kunden vermisste diese Titel!  Im Gegenteil! Wenn ich zuweilen erklären musste, warum ich das eine oder andere Buch nicht da habe - dann fanden es alle gut.  Zwei meiner Läden verwandelte ich binnen weniger Wochen in Stoffläden - in denen bis zum heutigen Tag alles, was wir verkaufen, von meinen Kolleginnen und mir selbst genäht wird und zwar so, dass jeder dabei zusehen kann: von der Schürze über die Maßtischdecke bis hin zu Kissen, Taschen etc. Das ist ungeheuer befriedigend.  Die veränderte Atmosphäre war sofort spürbar - diese Läden waren plötzlich Werkstätten.  Nach einem halben Jahr fühlte ich mich wie befreit: ich fuhr auf keine Messe mehr, wo man damals begann, auf shabby chic zu setzen, und schrieb stattdessen ein paar Bücher, allen voran die Seelenruhe, die über zehn Jahre lieferbar war. Und all das wegen einer kleinen blutigen Nähnadel. Ich habe sie heute noch, diese Nadel: sie steckt in einem eigens dafür genähten herzförmigen  Nadelkissen und ist Teil meines vielleicht kostbarsten Besitzes: einer Sammlung von Herzen unterschiedlichster Couleur und Provenienz, die alle ihre eigene Geschichte haben. Die Nadel der kleinen chinesischen Schneiderin befindet sich genau in der Mitte, wo es am wärmstens ist.       

180     Sie hat ihr Proletariat und auch das, was die Soziologen  inzwischen als Prekariat bezeichnen: dazu gehören oftmals intellektuelle Menschen, die sich in „prekärer“ Lebenssituation befinden, weil sie von dem, was sie einmal gelernt haben, nicht recht leben können. Bei aller sprachlichen Nähe zum Proletariat achte man bitte sehr genau darauf, diese beiden Gruppen nicht zu verwechseln: die Mitglieder des Prekariats haben in der Regel völlig andere ethische und ästhetische Prinzipien als die erstgenannte Gruppe. Aber sie sitzen irgendwie fest. Und manchmal hindert sie auch ihre Selbstachtung daran, ihre Lage zu ändern. Und das ist aller Ehre wert.
   
181   Darüber berichtet der australische Philosoph Martin Cohen in seinem fabelhaften Buch Neunundneunzig  moralische Zwickmühlen - Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns. (München: Piper Verlag 2008)  Wir haben von dem Titel bisher über fünfzehnhundert Exemplare verkauft - so wenige an Moral interessierte Zeitgenossen kann es also gar nicht geben! Allein eine solche Zahl könnte einem schon zu denken geben.

182     Wir befinden uns nämlich in Besitz eines Fotokopierers, der oh Wunder, nun schon seit vielen Jahren hält. Bei dem hat der Hersteller, glaube ich, entweder den Obsoleszenz-Chip vergessen, den vorprogrammierten eingebauten Verschleiß also,  oder aber er hat sich ausgerechnet, dass er so mehr verdient, weil man ja immer die ziemlich teuren Patronen nachkaufen muss. Drittens gibt´s die Möglichkeit, dass er ganz einfach ein freundlicher Mensch ist, der einfach mal etwas Gutes machen wollte.  

183      Die Sache mit der rechten und der linken Gehirnhälfte bitte ich nur als Metapher zu verstehen - sie entspricht nicht mehr ganz dem neuesten Stand der neurologischen Forschung. Tatsächlich weiß man bis heute nicht genau, wieso wir überhaupt zwei Gehirnhälften haben, es gibt dazu die unterschiedlichsten Theorien. Unsere Intuitionen und ein guter Teil der Emotionen, soviel weiß man inzwischen sicher, entstehen nicht in der rechten Hemisphäre, wie man noch bis vor kurzem annahm, während die linke für alles rationale Denken zuständig sein sollte („Nothing left in my right brain, nothing right in my left brain“ - dieses leider nicht ins Deutsche übertragbare Wortspiel widerspiegelt die bis dato übliche Auffassung von rechts- bzw. linkslastigem Denken). Unsere Intuitionen entstehen eher im evolutionsbiologisch gesehen ältesten Teil unseres Hirns, dem oberhalb der Wirbelsäule sitzenden Hirnstamm, dort also, wo uns auch die sprichwörtliche  „Angst im Nacken“ sitzt. Die anderen, jüngeren  Teile unserer Hirnrinde, des Neocortex, sind für die eher logischen Top-down-Denkprozesse verantwortlich, für unser „langsames Denken“, wie es Kahneman und Tversky nennen, im Unterschied zu unserem schnellen intuitiven Denken („bottom up“).  Sie sind erst nach und nach entstanden. Die Hirne unserer afrikanischen Stammeltern wurden im Laufe von etwa viereinhalb Millionen Jahren immer größer und größer, bis die Mütter, die die Großkopfeten schließlich auf die Welt bringen mussten, schließlich Veto einlegten und sagten, nun ist es aber mal gut. Prompt dachte sich die Natur die Fontanelle aus, die das Gebären bei unverminderter Kindskopfgröße erleichterte und als ultima ratio noch einen vorzeitigen Geburtstermin,  weil´s die armen Mütter sonst verrissen hätte. Ist auch so schon schlimm genug. Das heißt: zur Serienausstattung des Homo Sapiens gehört also ohnehin schon ein Dickkopf, der, nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, dann noch mal so richtig loslegt. Diese  Zusammenhänge sind denn auch der Grund dafür, dass unser hoffnungsvoller Nachwuchs im Unterschied zu allen anderen Geschöpfen aus Brehms Tierleben nicht sofort das kann, was jedes Fohlen drauf hat: stehen zum Beispiel und laufen, wenn auch auf wackligen Beinen. In kaum einer Primatenfamilie dauert es so lange wie bei uns, bis die lieben Kleinen aus dem Gröbsten raus sind. Menschenkinder brauchen fast fünfzehn Jahre, bis sie soweit sind ( in Einzelfällen allerdings auch wesentlich länger, wie das eine oder andere Elternpaar gerne bestätigen wird. Selbst dreißig Jahre sind inzwischen keine Ausnahme mehr). Die Evolution hat sich mit uns also so richtig Mühe gegeben: wir haben Hirnkästen, mit denen wir die Welt aus den Angeln - und wieder zurück hebeln könnten. Diesen Umstand  - den leicht vergessen kann, wer sich hin und wieder sei es aus Langeweile, sei es aus Verzweiflung durchs Fernsehprogramm zappt - sollten wir uns öfters mal vergegenwärtigen: wir könnten - im wahrsten Wortsinne  -  all unseren  Probleme „die Stirne bieten“ : unsere Fähigkeit zum logischen Denken, unser Durchhaltevermögen vor allem, mit dem die Erfolgsstory des Homo Sapiens begann, liegen nämlich  direkt hinter unserer Stirn, sie sind präfrontal (von lat.frons=Stirn). Wenn wir es irgendwie hinkriegen könnten, auch im neurologischen Sinne ganzheitlich zu denken, indem wir unser kompletten Hirnkasten verwenden, statt nur Teile daraus, wäre das schon mal die halbe Miete.   Kluge Menschen haben ohnehin ihren gesunden Menschenverstand immer im „Hinterkopf“. Und wenn wir es überdies noch  schafften, dieses immer und jederzeit gemeinnützig denkende Wissen, Ahnen, Fühlen mit dem präfrontalen E=mc  zu verbinden - wäre alles gewonnen! Dann würden sich im Nu alle Probleme, die der Globus gerade hat, in Wohlgefallen auflösen.
 
184   mit seiner 1867 gegründeten Universal-Bibliothek, die ein “Erscheinen sämtlicher classischer Werke unserer Literatur” versprach.    

185     von engl. to clutch, was soviel heißt wie packen, ergreifen, krampfhaft festhalten. In diese Clutches passt leider nicht allzu viel. Denn diese länglichen Taschen  sind den Abendtäschchen nicht unähnlich, die man einst in die Oper mitnahm. Eine pfiffige Frauengeneration  versah diese Taschenart dann mit Riemen oder - im Hause Chanel - mit längeren Ketten, auf dass man die Dinger nicht ständig irgendwo liegenlasse, was ja leicht passieren kann. Zumal es, wie wir oben gesehen haben, auch Veranstaltungen gibt, die man nicht ohne irgendeine Form von Betäubungsmittel überstehen kann. Daher sind diese riemenlosen Handtäschchen, die man jetzt überall wieder sieht, eigentlich ein Atavismus, wie so vieles in unserer Kultur, also eigentlich ein Rückfall in entwicklungsgeschichtlich  frühere Phasen. Man weiß nicht einmal, wo man diese Dinger hinlegen soll. Sie enthalten im Zweifelsfall ja auch Gegenstände, deren Verlust einen schon schmerzlich treffen könnte. Auf den  Tisch? Unhöflich. Unter den Stuhl? Nicht überall ratsam. Also wohin damit? Ich fürchte, dass in nicht allzu ferner Zukunft in jedem Caritas/Rotkreuzladen Dutzende dieser Taschen auftauchen, die ihren Besitzerinnen den letzten Nerv geraubt haben. Und ich wette, ich wette, dass sie nicht einmal für fünfzig Cent weggehen. ( Eine Londoner Kollegin, die ehrenamtlich in einem dieser Läden mitarbeitet, sieht das auch so: „demnächst werden wir diese Clutches,  wahrscheinlich jedem, der bloß mal reinkuckt, als Give-away aufdrängen müssen“, berichtete sie mir unlängst.  Das ist inzwischen eine probate Methode, um Kram loszuwerden.) Wie sehr  lobe ich mir dagegen die (von mir) so genannte  „Bollertasche“! Diese Riesengeräte erfreuen sich seit nunmehr vielen Jahren sehr zu Recht großer Beliebtheit.  Denn darin kann jede Frau von Verstand, Geschmack und Bildung jederzeit alles mit sich herumtragen, was sie eben braucht:  Familienphotos, Notiz- und Tagebücher, ein gut sortiertes Stifteetui, Brillen, Nähzeug, Zahnbürstchen,  Pflaster, Papiere ( incl. Auslandspass für den Familienhund, der aber gerade anderswo unterwegs ist) etc. etc. Unter etc. fallen nebenbei bemerkt neben jeder Menge Büchern  auch Tapeten- und Stoffmuster, für den Fall, dass man die Lampe findet, die dazu passt, sowie  Maßband oder Zollstock und vieles mehr. Darüber ist schon so oft in der einschlägigen Literatur  - und keinesfalls nur in der eher mainstreamigen Clutch-Presse -   philosophiert worden. Dass diese Bollerteile ein Stück weiblicher Autarkie sind, fällt allerdings nur wenigen auf. Sie sind der sinnfällige Ausdruck der Tüchtigkeit einer Generation, die sich vor nichts bange macht. Mit einer solchen Tasche könnte man uns notfalls auf einer einsamen Insel oder auch auf dem Mars   aussetzen - wir kämen schon zurecht, da wir uns unter vielem anderen in Besitz eines Schweizer Offiziersmesser befinden.  Und außerdem hätten wir - anders als Tom Hanks in Cast Away -  Bücher dabei:  „Hab ich selbst gemacht“ zum Beispiel  von  Susanne Klingner ( mit dem Untertitel „365 Tage, 22 Hände, 66 Projekte“ übrigens ein zauberhaftes, bei Kiwi erschienenes Buch, das allen Frauen Lust macht, auch schwierigere Do-it-yourself-Projekte in Angriff zu nehmen ). In den etwas zivilisierteren Weltgegenden, in denen wir daheim sind, helfen  diese Taschen  überdies jede  Menge Plastikbeutel  einzusparen,  weil sich darin auch problemlos die Zutaten für ein mittelgroßes Bankett verstauen lassen. Allerdings haben sie  auch ein paar Nachteile, die hier nicht verschwiegen werden sollen.  Man findet nämlich nichts wieder. Jedenfalls nicht das, was man gerade sucht, dafür Dutzende von diesen zerkrümelten spekulatiusähnlichen Keksen, die es allenthalben zum Kaffee gibt und die man sich als sparsamer Mensch für den Fall  einsteckt, dass man mal in Unterzucker kommt. (Tipp: wenn Sie genug haben, können Sie damit eine sehr leckere Panade für arme Ritter oder Topfenknödel  machen, deren Rezept ich Ihnen gern zuschicke!). Chaostheoretiker hätten an diesen hochinteressanten Taschen und ihren Inhalten ihre helle Freude. Inzwischen vermutet man sogar,  dass die Chaostheorie überhaupt von diesen Taschen inspiriert wurde, wofür so einiges spricht, denn beide kamen in etwa zu selben Zeit auf.  Bei IKEA gibt es seit einiger Zeit wohl deswegen auch Handtaschenbeleuchtungen,  damit man wenigstens die wichtigsten Dinge wie Schlüssel oder Geldbörse innerhalb einer Zeit findet, in der man auch einen Halbmarathon laufen könnte, aber sei´s drum. Überall hat so gut wie jede Frau, die ich kenne, pro Tag mindestens zwei bis drei kurze Stressschübe, wenn das Portemonnaie weg ist. Aber immerhin freut man sich jedesmal, wenn man es dann doch wiederfindet, so vermitteln die Bollerteile auch Glücksmomente, von denen der, der keine hat, nichts weiß.   Mein Tipp - den ich übrigens aus dem obengenannten Buch  habe: diese Handtaschenbeleuchtung brauchen Sie nicht - man nähe sich einfach für die ganz wichtigen Dinge ein Extra-Säckchen, das man mit einem Band in der Tasche fixiert. Dann braucht man sich nur noch, wie einst die kluge Ariadne auf Kreta, an diesem Band entlangzufühlen (geht notfalls mit geschlossenen Augen)  und schon findet man sich auch in den unübersichtlichsten Gemengelagen zurecht!  Deswegen bezeichnet man noch heute jedes Buch, das seinem Leser komplizierte Zusammenhänge einfach darstellt, als Ariadnefaden.  Der Begriff dürfte allerdings nur noch dem klassischen Bildungsbürger geläufig sein, der  Gustav Schwabs Sagen des Klassischen Altertums kennt und noch heute „Agamemnon“ liest, wenn eigentlich „angenommen“ da steht (wie Lichtenberg einst beobachtete).   Ariadne, die Kluge, konnte  mit Hilfe dieses Leitfadens  aus dem Labyrinth entkommen, wo sie dem wüsten minoischen Stier geopfert werden sollte. Was mich zuweilen zu der Überlegung veranlasst, dass auch in den  ziemlich unübersichtlichen Zeiten, in denen wir heute leben,  derlei Ariadnefäden gerade recht kämen.  Zum Glück ist jede Buchhandlung voll davon.  Wer also keine große Lust verspürt, auf dem Altar eines alles verschlingenden Marktes verheizt zu werden, braucht nur auf ein paar Stündchen in der kleinen Buchhandlung um die Ecke abzutauchen. Und sich mit den richtigen Büchern gegen alle Unbill zu wappnen.

186      Wer Udo Pollmers im Piper Verlag erschienenen Bücher  über Fitness-Irrtümer gelesen hat, wird sich in der Beziehung ohnehin keinen Illusionen mehr hingeben.  Pollmer ist übrigens Lebensmittelchemiker und er hat schon vor Jahren auch ziemlich geniale Bücher über die Etikettenschwindler  geschrieben, die uns den bereits obenerwähnten Erdbeerjoghurt ohne Erdbeeren, dafür aber mit lecker Holzabfällen darin servieren. Pollmer gilt seither als enfant terrible der Szene. Aber fragen Sie in Ihrer  Buchhandlung auch nach den anderen kritischen Köpfen wie Hans-Ulrich Grimm (Vom Verzehr wird abgeraten, Garantiert gesundheitsgefährdend, Die Kalorienlüge etc. alle: München, Droemer-Kanur Verlag)  vor allem. Danach sparen Sie sich garantiert die meisten, wenn nicht all die fabelhaften Nahrungsergänzungsmittel, die man uns in jeder Reformhauspostille anpreist. Da preist man uns diese Omega-3-Kapseln an  und diese angeblich ach so gesunden Trinkjoghurts, mit dem man seine Darmflora dann vollends in die Tonne hauen kann. Lachen Sie nicht - das ist tieftraurig und hat auch gesellschaftliche Konsequenzen: denn wie soll man mit als diesem - pardon - verdammten Joghurt kreativ werden? Wie sollen wir Lösungen für das finden, was auf unseren to-do-Listen steht, wenn wir nur an irgendwelchen Salaten herumpicken? „Wer nicht richtig isst“, befand Virginia Woolfe (s.o.)  einst, „ der kann auch nicht richtig denken.“ Es gibt Menschen, die sich (um Kalorien zu sparen und vor allem das böse, böse Cholesterin)  nicht einmal mehr ein Ei in die Pfanne hauen, dafür aber überall mit ihren Pillen und Weihwasserfläschchen unterwegs sind, wie es  Manfred Lütz in seinem  Fast-schon-Klassiker Lust so beredt beschreibt ( München: Pattloch-Verlag)  Allen, die selbständig denken, sei vor allem dieses Buch sehr ans Herz gelegt. Lütz ist nicht nur Psychologe, sondern auch Theologe, was seine Bücher noch mal interessanter macht. Deswegen ist  ihm auch die formale Ähnlichkeit zwischen dem Fitness-Kult und anderen Formen fanatischen Glaubens aufgefallen: heute schon gesündigt? Lütz ist immer ein Hochvergnügen. Sehr zu empfehlen ist auch das sehr, sehr witzige neue Buch von Werner Baetens: Der Terror der Gesundesser (München: Droemer-Knaur, 2015); darin beweist der Arzt und Wissenschaftsjournalist,  dass nichts von all den Ernährungs- und Fitnesstheorien, die uns verkauft werden, wirklich belegt ist. Der Mann schreibt mir ja so was von aus dem Herzen! Schon seine Frage, warum wir trinken sollen, bevor der Durst kommt, macht deutlich, dass das ewige Genuckel an Plastikflaschen vielleicht nicht so gesund ist, wie immer behauptet wird. Glaube ich sofort!  Ich erinnere mich noch sehr gut an ein höchst seltsames Bewerbungsgespräch, das ich vor einiger Zeit führte: ich saß mit einer Bewerberin auf einem unserer Sofas, unterhielt mich freundlich mit ihr und versuchte mehr über die Gründe zu erfahren, warum sie Buchhändlerin werden wollte(denn wenn man es nicht unbedingt will, schafft man´s nicht). Vor dem Gespräch hatte sie sich eine Eineinhalbliter-Wasserflasche ans Sofa gestellt, aus der sie - während des vielleicht halbstündigen Gesprächs - ständig trinken zu müssen glaubte. Es war wohlgemerkt kein heißer Tag und nichts! Ich war ganz fasziniert von dem Phänomen, das mir gleichwohl nicht ganz unbekannt ist: ich gebe seit vielen, vielen Jahren Schreibkurse und bin immer wieder überrascht, mit welcher Ausrüstung die Teilnehmer auftauchen - wir sitzen in zumeist fröhlicher Runde auf Sesseln und Sofas, es gibt immer Tee oder auch ein Glas Wein, den ich spendiere, und doch sind immer ein  paar Selbstverwirklicher dabei, die mit diesen Plastikpullen auftauchen! Aus denen wird dann mit gläubiger Inbrunst alle fünf Minuten ein Schlückchen genommen und ich habe auch schon welche erlebt, die dann noch ein Tupperdöschen dabeihatten, dem sie alle naslang dann noch ein Stückchen Apfel entnahmen oder ein Träubchen….Auf die Idee, dass man in einer Gruppe sein Essen auch anderen anbietet, kommen diese tendenziell etwas narzisstischen Mitmenschen natürlich nicht. Könnte ja für sie nichts mehr übrigbleiben! Ich sehe immer zu, dass ich diese Sorte von Kursteilnehmern mit Hausaufgaben versorge, die vielleicht noch den einen oder anderen Denkprozess auslösen, doch meistens ist´s vergebene Liebesmüh.  

187      wie es bei den noch überlebenden Hopi-Indianern heißt.

188    Obwohl auch Schmachtfetzen besser sind als ihr Ruf! Manchmal braucht vor allem die weibliche Seele ganz einfach das, was man als literarisches Gegenstück zur Schwarzwälder Kirschtorte bezeichnen könnte. Man isst so etwas ja nicht alle Tage, aber mal ist es eben schön. Unsere Literaturpäpste  sind in der Beziehung bekanntlich etwas intolerant und wittern in aller Unterhaltungsliteratur den Untergang des Abendlandes.  Lesen hat wohl immer etwas mit Eskapismus zu tun, der Neigung zu einer (wenigstens mentalen) Flucht aus einem vielleicht nicht gerade spannenden Alltag. Und doch: ich bin davon überzeugt, dass diese Kleinen Fluchten klugen Leuten helfen, eine andere Perspektive einzunehmen. Das geschieht zuweilen ganz unmerklich.

189      „Kein ernsthafter Ökonom zweifelt heute daran, dass Ideen und Kreativität das wichtigste Wirtschaftsgut des 21.Jahrhunderts werden“, schrieb Wolf Lotter in Brandeins vor nicht allzu langer Zeit. Lotter schreibt überhaupt nur wahre Texte. Er ist ein Querdenker allererster Kajüte.   

190      Über diese Spiegelneuronen, die zu den interessantesten Entdeckungen der Neurologie gehören, ist wird im nächsten Band dieses Handbuchs noch mehr zu erfahren sein.  Die Spiegelneuronen sagen viel über  das Geheimnis menschlicher Empathie aus, das die Theoretiker des Prinzips Eigennutz ja gern in Abrede stellen. Aber wenn wir wirklich Egoisten wären, warum verzerren wir dann bereits schmerzvoll das Gesicht vor Mitleid, wenn uns jemand nur berichtet, wie er sich anderntags ganz fürchterlich beim Zwiebelschneiden, die Fingerkuppe weggesäbelt hat…Sehen Sie, wir spiegeln diesen Schmerz, verstehen ihn intuitiv, fühlen ihn im wahrsten Sinne mit. Feinsinnige verzerren schon das Gesicht, wenn sie einer Person gewahr werden, die auf Zehnzentimeter-Absätzen übers Altstadtpflaster humpelt.  Unsere Spiegelneuronen „feuern“ sogar schon  beim Anblick einer EurovisionsgewinnerIn  mit Bart oder eines Sechszehnjährigen  mit  Zungenpiercing   -  warum sollte sich Mutter Natur, wenn sie uns als Egoisten angelegt hätte, so etwas Wunderbares wie Mitgefühl ausdenken?

191   Leider muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass man in Goethes Elternhaus am Frankfurter Hirschgraben nur sehr wenig davon findet.  Warum eigentlich? Im Goethehaus hängen nur ein paar leblose Taschenbücher in eigentlich für Postkarten vorgesehenen Drahtgestellen herum und  ich  bitte die Verantwortlichen  hiermit inständig,   diesen phantasie- und  würdelosen Zustand zu beenden! Da pilgern jährlich Tausende von Japanern und anderen freundlichen Menschen  zu Goethe und Gutenberg und in Frankfurt gibt es nicht mal „Goethe in der Campagna“ zum Mitnehmen. Dafür finden sie in Mainz, wo die nette Frau Cordes das Sagen hat, die wunderbarsten Dinge zum Thema Buchgeschichte. Aber, mein Gott,  im Hirschgraben?  In Frankfurt findet man ihn ohnehin nur, wenn man einen Kompass dabei hat oder über das Orientierungsvermögen eines Indianers verfügt. Würdet ihr Frankfurter, bitte, ein paar Euros für ein paar Hinweisschilder locker machen? Oder gar ein paar Goethe-Zitate an ein paar strategisch günstigen Stellen aufhängen, die bei der Orientierung helfen? Wieso müssen Bushaltestellen immer mit Werbung für irgendwelche exklusiven Düfte, halbtransparenten Damendessous oder auch Luxusuhren verziert werden, die Benutzern öffentlicher Verkehrsmittel ohnehin herzlich schnurz sein dürften.   Könnten unsere Stadtväter und - mütter nicht mal in eigener Sache werben?  Für Museen und Bibliotheken vor allem,  für Kultur, für gemeinwohlorientierte Projekte, für Idealisten und für Bücher - kurz: für das, was Gemeinde wirklich ausmacht? Aber ich höre schon die Einwände: der öffentliche Verkehr ist längst privatisiert.  Und die Privaten verkaufen die Haltestellen natürlich als Werbeflächen, ganz klar.  Das hat man nun von dem ganzen Outgesource: man ist nicht mehr Herr im eigenen Hause.     

192   ….   na ja, nicht ganz. Es gibt Bücher, die einem so das Blut in Wallung respektive zur Gerinnung bringen ( die so genannten Blood curdler), dass es sich dann mit aller Kreativität auch wieder hat. Warum diese Teile überhaupt gedruckt werden,  ist echten Buchliebhabern ein Rätsel. Aber Nachdem wir über den Mainstream jetzt ja so einiges mehr wissen, können wir´s uns schon vorstellen.

193      Den Nachsommer empfehle ich Ihnen allerdings zu kaufen, weil eine Ausleihdauer von zweihundert Tagen theoretisch zwar machbar ist, aber in der Praxis dann schon etwas zäh wird. Die zurzeit wohlfeilste Ausgabe gibt es - wie immer - bei Reclam, eine ganz wunderbare bei Insel auf seidigem, elfenbeinfarbenen Dünndruckpapier…  

194 Wolfgang Determann gehört zur Alten Schule der feinsinnigen, hochkultivierten Verlagsvertreter, mit denen man sich erst einmal ein, zwei Stunden über die Bücher unterhält, die man gerade liest oder - wie in seinem Falle - auch schon mal übersetzt, bevor man mit dem Bestellen anfängt.
Die wirklich guten Vertreterkollegen sind ganz leicht daran erkennbar, dass sie nicht nur lesen, was ihre eigenen Verlage auf den Markt bringen, sondern dass sie trotz des Stress´, dem sie ausgesetzt sind, neugierig auf alles andere bleiben. Die meisten von ihnen sind echte Büchermenschen, leidenschaftliche Leser oder gar Feuerköpfe wie Tom Hoymann zum Beispiel, der hier in Bayern unter anderem für dtv unterwegs ist. Wenn er auf unserem blauen Sofa sitzt, intoniert er  in perfekter hochdeutscher Bühnenlautung ein Loblied auf das Buch, das nicht irgendeine Ware ist, sondern die Seele unserer Kultur, wie er sagt.  
Damit macht er übrigens  nicht nur älteren Tanten wie mir eine Freude. Nein, auch der Nachwuchs ist stets begeistert, wenn er kommt und  schüttelt ihm schon mal Stunden zuvor die Kissen auf.  Unlängst versicherte ihm auch ein Kunde, der Toms leidenschaftliches Plädoyer zufällig mitbekam: „Wenn man Sie so hört, glaubt man wieder an die Zukunft des Buches!“
Und das ist nicht nur nett gesagt. Es stimmt auch! Denn echte Leser machen sich ihre eigenen Gedanken zum Weltgeschehen und die sind nur ganz selten, wenn überhaupt je, damit identisch, was die Lifestyle-Designer für uns vorsehen.  
Deswegen betrachten die Bedürfnisproduzenten weltweit auch alle Printmedien mit Argusaugen, worüber im zweiten Band dieses Buches die Rede sein wird: die data miner haben gerade uns auf dem Schirm. Dabei glaubten sie  schon, uns als tendenziell unsichere Kantonisten los zu sein. Und tatsächlich werden die Orte, an denen es Bücher gibt, auch seltener - aus Gründen, über die so einiges zu sagen wäre, bloß passt das hier nicht alles rein. Ich verspreche Ihnen aber, an anderer Stelle darauf noch einmal mit gewohnter Ausführlichkeit zurückzukommen. Deswegen sei all unseren  Buchhandelskollegen schon mal hier, wenigstens in einer Fußnote, zugerufen: lasst euch nicht (weiter) entmutigen! Definiert Eure Zielgruppe richtig - kauft Bücher für Idealisten und nicht für die Angepassten!  Die sollen, wenn sie denn überhaupt lesen, ruhig weiter online shoppen - uns doch egal! Dann sind wir wenigstens unter uns!
Das Netz hat ja auch seine Vorteile: heute braucht keine Buchhandlung mehr das Sozialgesetzbuch vorrätig zu halten oder irgendwelche Scheidungsratgeber. Wir brauchen auch keine Karriereführer für Nachwuchsarmleuchter und keine Bücher zum Thema Geldanlage - kurz: sehr viel von dem, was einst zum Vollsortiment gehörte, müssen wir heute nicht mehr einkaufen. Diese Titel gehen alle online - was uns sehr zugute kommt: so haben wir mehr Platz für all die schönen Bücher,  die für junge Mütter und die über alte Apfelsorten zum Beispiel, die über Bäume und über Baumhäuser und die über Franziskus und den Dalai Lama.  Kurz - die Bücher, die zu unseren Seelen sprechen und die der Leser nur findet, weil wir sie vorrätig haben und er sie bei uns entdeckt! (Oder vielleicht entdecken die Bücher ja wirklich ihre Leser, wie viele wirkliche Bücherfreunde behaupten. Das konnte bisher noch nicht abschließend geklärt werden). Will sagen: eine wohlsortierte Buchhandlung, die sich nicht dem Mainstream anbiedert, wird immer laufen, vielleicht nicht so, dass man damit Reichtümer anhäuft, aber doch so, dass man glücklich leben und Kinder aufwachsen lassen kann. Was brauchen wir mehr? Wir haben Bücher und gute Laune.  Und durchs Internet brauchen wir nicht einmal mehr regelmäßige Lageraufnahmen bei den Beck´schen Texten! Wenn das nichts ist! Auch  die ganze Chaka-Chaka-Literatur können wir uns sparen, ebenso wie all die Bücher, die wir einst mit spitzen Fingern irgendwo unten in ein  Regal räumten, wo man sie nicht gleich sieht. Wenn man es genau betrachtet, können wir also  froh sein, dass das Internet die - mit Verlaub - Deppen bedient, die sich auch keine Gedanken über all den überflüssigen Verpackungsmüll machen, den sie produzieren. Oder das Chaos in den Innenstädten, wenn die wirklich bedauernswerten Zusteller mit hochroten Köpfen  die Adressaten ihrer Sendungen suchen. Das ist schlimm. Aber sorgen wir dafür, dass es nicht noch schlimmer wird.  
Enttäuschen wir  die guten Kunden nicht!  Lassen wir uns von diesem ollen Internet nicht den Schneid abkaufen!  Freuen wir uns lieber, dass wir die Revanchisten, die nach der Militaria-Abteilung fragen,  nicht mehr zu bedienen brauchen. Ich jedenfalls vermisse sie nicht, die alten Knacker, die einem, so man sie über das Fehlen einer solchen in Kenntnis setzt, dann auch noch mit Sätzen daherkommen wie “Ach, dann sind Sie wohl keine richtige Buchhandlung!”. Wir müssen das Zeug nicht mal beim Barsortiment  bestellen! Wie fabelhaft ist das eigentlich? Kurz: lasst euch, liebe Kollegen, nicht schon morgens in der Früh vom Gedanken an den Onlinehandel herunterziehen.  Kauft beherzt Bücher! Und kauft vor allem Bücher ein, die die Widerständler interessieren, von denen es, wie es zu beweisen galt, mehr gibt, als wir annehmen sollten.  Lasst Euch also nie von Steuer- und Betriebsberatern ins Bockshorn jagen,  denn sonst passiert genau das, was die Bewusstseinsingenieure wollen. Sobald alle richtigen, echten, inhabergeführten Buchhandlungen endlich vom Markt sind, verkaufen die Burschen nur noch Thriller, aus denen seitlich das Blut heraustrieft und was sollen anständige Menschen dann lesen? Oder, schlimmer noch, was sollen sie ihren Kindern  vorlesen?  Denkt immer daran: Buchhandlungen sind Reservate des Guten. Seid dickköpfig! Kauft nur das Beste, denn dann wird das Gute auch weiter entstehen. Und wehrt euch vor allem gegen die neuerliche Bedrohung der
Buchpreisbindung - wer diese Zeilen aufmerksam liest, weiß ja, aus welcher Ecke sie kommt. Man braucht dafür nicht einmal eine Verschwörungstheorie zu bemühen: eine wegfallende Preisbindung wird stante pede zu einem Verdrängungswettbewerb führen und dann gibt´s bald nur noch Bücher, die das Qualitätsniveau von Arielle, der kleinen Meerjungfrau, nur unwesentlich überbieten.  
Dabei wäre das alles ganz einfach zu verhindern, denn all diese internationalen Komitees sind durch die Bank von einem  gravierenden Demokratiedefizit geprägt - d.h. sie maßen sich, wenn man mal richtig hinsieht, Rechte an, die wir ihnen nie gegeben haben.  Denkt immer daran: Wir sind das Volk! Wir sind die Anständigen! Wir sind die Leser! Hier spielt die Musik! Nicht in Brüssel, wo ohnehin nur noch Lobbyisten das Sagen haben. Wollen wir wirklich dabei zusehen, wie wir uns von ein paar Wadenbeißern dieses in der Geschichte der Menschheit einzigartige  kulturelle Leitmedium zerstören lassen? Gutenberg würde, zu Recht übrigens, im Grab rotieren, wenn er davon erführe - was ich übrigens nicht ausschließen kann und will, da ich durchaus an ein Leben nach dem Tode glaube. Doch davon mal abgesehen: Kauft gescheite Bücher, liebe Kollegen! Jedenfalls keine,  in deren Klappentext “schräg”, “schrill”, „beklemmend“ oder  gar “abgründig”  vorkommt: denn die sind  in der Regel unerträglich Mainstream.  Mit den richtigen Büchern aber, den anständigen, können wir neue Trends setzen und die bestehenden unterstützen.

195  Der weiße Elefant geht, wie Sie wahrscheinlich wissen,  auf ein Experiment zurück, das sich  in der Bewusstseinsforschung größter Beliebtheit erfreut: wenn man Probanden auffordert: „Denken Sie nicht an einen weißen Elefanten!“ denkt natürlich alles an einen weißen Elefanten. Es ist schwer, ihn aus den Gedanken zu verbannen, schon weil sich die Gegenfrage „Warum soll ich nicht an einen weißen Elefanten denken?“ ständig aufdrängt. Nicht denken zu wollen ist etwas so sinnvoll wie der Plan, einen Garten auf Dauer von Unkraut frei zu halten. Erstens macht man sich bei dem Versuch schon wahnsinnig und zweitens hat Gott auch den Storchschnabel lieb, sonst hätte er ihn nicht gemacht. Oder? Der weiße Elefant oder „white elephant“ hat im angelsächsischen Sprachraum übrigens noch eine weitere Bedeutung, die zweifellos auf  die Kolonialzeit zurückgeht.  Ein „White Elephant“ bezeichnet ein  Geschenk, das die Beschenkten teuer zu stehen kommt, das sie aber nicht ablehnen konnten und über das sie sich auch noch freuen mussten. Diese Metapher  bezeichnet  tatsächlich alles Unnütze, Belastende, Kostspielige, das uns nur Zeit und Energie raubt. Leider ist unser aller Leben voll von dieser Art Dickhäuter. Kein Wunder also, dass die englischsprachigen Probanden in dem besagten Experiment aus dem Denken  gar nicht mehr raus kamen. Das ist so, als sagte man mir, ich solle jetzt nicht über meinen Kontostand nachdenken.

197    So erscheint auch der ohnehin schon hochinteressante Trend zum Selbermachen in einem noch mal anderen Licht: dieser Trend ist ursprünglich nicht Mainstream, sondern  Ausdruck der Intelligenz der Vielen: wer Dinge selber macht, macht sie nicht nur in einem anderen Tempo als dem allgemein üblichen. Allein deswegen hat er Zeit, seine eigenen Gedanken wieder zu hören. Darüber hinaus beeinflussen aber seine Hände, die tendenziell überdies etwas sozial Nützliches tun, die Qualität ebendieser Gedanken! Mich würde mal interessieren, wie viele mehr oder weniger brauchbare Einfälle eine Gruppe produziert, die in einer Versuchsküche erst mal kochen und gemütlich essen darf - im Vergleich zu einer, die bloß auf Stapelstühlen hockt und den Kaffee und den Apfelkuchen serviert bekommt. Ich wette, dass dazwischen Welten liegen.


198     In unserem Gutenberg-Laden hier in Lindau, einer Fachbuchhandlung für Bibliophile und Kreative, bieten wir unter vielem anderen etwas, was man sonst eigentlich nirgends findet - Klemmbretter in A3 nämlich. Sie sind ideal für „den großen Wurf“, der ja auch nicht umsonst so heißt, denn man braucht eine leichte, entspannte, eben lockere Hand für wirklich gute Eingebungen. Wenn unsere Hand und unsere Phantasie schon durch die Größe des Papiers eingeschränkt ist, können wir nur schwer über Grenzen hinaus denken -  ich könnte Ihnen dazu die nettesten Anekdoten erzählen! Auf A4 sehen die Ideen schon ganz anders aus als auf heftgroßem Papier, für A3-Ideen , wie ich sie nenne, braucht man eigentlich nur das richtige Werkzeug!  Das mag jetzt vielleicht etwas esoterisch klingen. Aber ich will nie mehr in meinem Leben Schokolade essen, wenn entsprechende, hochwissenschaftliche Versuchsanordnungen nicht genau diese intuitive Erkenntnis bestätigen würden: wir werden durch (hinreichend großes ) Papier ganz anders inspiriert. Auf diesem schlichten Werkstoff trauen sich auch intuitive Einfälle ans Tageslicht und siehe da, schon ist, wenn man richtig hinsieht, die Königsidee dabei! Mich bezaubert das immer wieder. Die schöne und nützliche Kunst der  Ideenfindung, griechisch Heuristik, vermittle ich zuweilen in, wie ich denke, immer sehr  unterhaltsamen Kursen - und das Ergebnis ist immer gleich: Papier, das empfinden auch Menschen, die keinen Schritt ohne ihr Smartphone tun, ist - ohne Übertreibung -  der  „Stoff, aus dem die Träume sind“.     

199 Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit das zweifelhafte Vergnügen,  einen waschechten Data Miner kennenzulernen, einen dieser Datenschnüffler nämlich, die offensichtlich Tag und Nacht im Netz unterwegs sind. Bei meinem Exemplar handelte es sich um einen  Oberbescheidwisser von ergreifender Schnöselhaftigkeit, der sich zufällig, während eines Gewitters, in meinen Laden verlaufen hatte.  Er fragte mich nach allem möglichen aus, nach meinem Warenwirtschaftssystem und meiner Zielgruppenforschung, bevor er mir augenzwinkernd verriet, dass Neugier zu seiner Jobbeschreibung gehöre. Daraufhin fühlte er sich veranlasst, mich über seinen edlen Beruf  ins Bild zu setzen und  plauderte noch über dies und das, was mir nicht weiter erinnerlich ist. Als er sich endlich zum Gehen anschickte,  verehrte er mir die Visitenkarte des Unternehmens, für das er Informationen ausbuddelt. Tatsächlich ist Data Mining, wie er mir (wiederum augenzwinkernd)  versicherte, eine Goldgrube. Ich glaub´s gern, antwortete ich ihm und verkniff mir den Zusatz:  wenn man denn Lust hat, immerzu untertage im Dreck zu wühlen und dabei das liebe Licht der Sonne nicht mehr zu sehen. Und tatsächlich hatte der Bergwerker  auch einen käseweißen Teint und die ersten bitteren Falten des völlig humorlosen Kaugummikauers um den Mund. Wer im Herumschnüffeln in andererleuts Leben seinen Lebenszweck erblickt, dachte ich mir, braucht sich nicht zu wundern, wenn er mit fünfundzwanzig aussieht wie Mitte vierzig, aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Ich fragte ihn schließlich, doch ein wenig neugierig geworden, nach seinem Spezialgebiet, über das er denn auch bereitwillig referierte:  es seien die circadianen, also die Tages-Rhythmen seiner „Kundschaft“.  Er schaut sich genau an, wann jemand zu seiner Ortszeit mit welcher Frage ins Netz geht. Wenn er zum Beispiel des Nächstens um dreie seinen Kontostand abruft, könnte es durchaus lohnend sein, ihm einen easy credit auf den Schirm zu schicken, ein Umschuldungsangebot, das der in der Klemme Steckende möglicherweise sogar für göttliche Fügung hält, für ein Geschenk des Himmels (wobei er über den halsabschneiderischen Effektivzins von achtzehn bis achtundzwanzig Prozent garantiert nicht weiter nachdenkt, fügte ich im stillen noch hinzu.)  In seiner Doktorarbeit habe er deswegen auch  vorgeschlagen, diese Umschuldungsangebote je nach Kulturkreis mit religiösen oder quasireligiösen Bildern zu verbrämen, in Europa und in den Staaten kämen vor allem Engel gut,  in Thailand Elefanten, die mit Wohlstand assoziiert werden und in China vor allem Glückszahlen. Das hätten empirische Studien inzwischen eindeutig nachweisen können. Ich war froh, als sich endlich die Ladentür hinter dem Burschen und seiner ganzen verflixten Empirie schloss.

200 Robert Gernhardt sind unter anderem diese betörend schönen Tierzeiler  zu verdanken:  „Des Nächtens fasst der Kormoran/ Schon mal die Kormoranin an/ Die dies, wenn gleich auch ungern, duldet/ Weil sie ihm zwei Mark fünfzig schuldet.“  Derlei Reimereien können, so man sie entsprechend platziert,  auch noch in die dunkelsten Gelasse Licht werfen. So hängt eben dieses Gernardt-Zitat in meiner Abstellkammer und immer wenn´s ans Putzen geht - eine Arbeit, die ich tendenziell nicht sonderlich schätze - leuchtet mir die geduldige Lebenshaltung der Kormoranin ein: watt mutt, dat mutt eben.
Ein paar echte Gernhardts finden sich auch auf meiner Schreibtischunterlage, also genau dort, wo ich des öfteren  mit unschönen Zahlen konfrontiert werde. Hier  noch eines, das ich sehr liebe und jedem empfehle, der sich man mit seinen Vorgesetzten herumzuärgern hat: „Es sprach der Herr zum Knecht/ Mein lieber Knecht, mir ist so schlecht./ Darauf sprach der Knecht/ „Das kommt mir gerade recht“.
Man unterschätze nie die schmerzlindernde Wirkung von Lyrik, vor allem aber von Nonsenspoesie! Und der Knecht, scheint mir,  hat überdies revolutionäres Potential. Wenn Sie sich das nächste Mal fragen, warum in drei Teufels Namen Sie sich  schon wieder verpflichtet sehen,  irgendwelche Dinge nur um des angeblich lieben Geldes wegen zu tun, dann sagen Sie sich einfach eines dieser Verslein vor, die  man auch leicht auswendig lernen kann. Oder trösten Sie sich, wenn Sie wieder mal mit einem Kotzbrocken erster Ranges zu tun haben, ganz einfach mit einem herzlichen „Sie können mich mal gern hardt!“ Was meinen Sie, wie das hilft! Denn wenn wir nichts mehr zu lachen haben, können wir auch nicht gescheit denken, das ist einfach so.

201 „Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.“  

202  Wann immer etwas besonders Kniffliges anliegt, Angela Roeder wird´s schon richten. Sie ist der geschickteste Mensch, der sich nur vorstellen lässt. Sie ist Künstlerin durch und durch und sie gehört zu den Frauen, die auch Fliesen und Parkett verlegen und mal eben aus lauter Weißblechdosen ein Regal zusammenschweißen. Sie patcht und quiltet und „mactavisht“ - das ist eine besonders komplizierte Quiltingtechnik.  Hinterher verschenkt sie  ihre Arbeiten. Für einen ihrer kleineren Quilts hat sie gerade zweitausendachthundertfünfundneunzig Stoffstückchen zusammengenäht, alles Reste aus einem unserer Stoffläden.  Angela beherrscht - wie alle wirklich Kreativen -  die edle und überaus befriedigende Kunst, aus nichts etwas zu machen. Ich versuche sie immer zu überreden, ein Buch über ihre Projekte in Angriff zu nehmen, bisher allerdings ohne Erfolg. Vielleicht können Sie sie ja davon überzeugen? Angela Roeder ist meistens im Kassen- und Bestellbereich unseres Hauptgeschäftes in der Cramergasse anzutreffen. Sie ist leicht daran erkennbar, dass sie so gut wie jeden Normalsterblichen um etwa Haupteslänge überragt.
 
203   …gleich neben dem großen Duden, den anständige Menschen trotz aller oder gerade wegen aller Rächtschreipprogramme dort noch zu stehen haben für den Fall, dass es wieder mal  einen diesen netten Streiche spielt, die Bastian Sick (“Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod”) mal sammeln  sollte. Meines zum Beispiel  ändert - ohne mich zu fragen - Schlamassel, wie der,  in dem der Globus gerade steckt, automatisch in Schlammassel, was ein ziemlich schwaches Bild ist. Das altehrwürdige Wort Schlamassel   ( mit einem m also ) ist eigentlich jiddisch  und bedeutet Unglück ( darin ist das Gegenteil, das glückverheißende Massel tov noch erkennbar ). Aber das kann so ein Programm natürlich nicht wissen. Wie auch? Es genießt die Gnade der späten Geburt!  Obwohl, wenn man´s genau überlegt,  das Wort Schlammassel  (mit zwei m)  durchaus brauchbar wäre. Stellen Sie sich mal vor, Sie könnten eher trieb- und impulsgesteuerte Menschen mit “Sie Schlammassel, Sie!” titulieren! Das hätte doch was.
   
204      „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ - auch dieser denkwürdige Satz des Dadaisten Francis Picabia (1879-1953) gehört zu den Texten, die man sich an den Spiegel  stecken kann, wo man besagten Kopf  öfter mal zu Gesicht bekommt. In seiner Jugend neigte der äußerst exzentrische Künstler dem Kubismus zu, deswegen ist ihm der eine oder andere Darstellung  eher eckig geraten. Vielleicht kommt ja daher der Ausdruck Klotzkopf.  

205     Schon wieder Schweden! Falls Ihnen inzwischen aufgefallen sein sollte, dass dieses schöne Land ziemlich oft in diesem Buch vorkommt, sei Ihnen verraten: das ist durchaus kein Zufall. Die  Auflösung des Rätsels kommt aber erst ganz zum Schluss des zweiten Bandes.  

206    Wie gern sähe ich diese Geschichte illustriert!  Das gäbe, soviel ist sicher, ein zauberhaftes Bilderbuch. Und wer weiß, was man mit der Geschichte nicht alles bewirken könnte!  Für Kinder wüsste ich zurzeit nur eine ganz ähnliche - Das hässliche Entlein von Hans-Christian Andersen nämlich, das es in ein paar sehr kunstvollen Versionen gibt. Kein Kind sollte ohne dieses schöne Märchen aufwachsen, in dem von einem verwaisten Schwanenkind erzählt wird. Es wächst in einem Hühnerhof auf, in dem auch noch anderes, eher bodenständiges Geflügel daheim ist, Enten jeder Couleur und anderes Federvieh, das an Höherem nicht sonderlich interessiert ist. Das Schwanenkind hat´s dort natürlich schwer, schon weil es nicht so aussieht wie alle anderen und eben als „Hässliches Entlein“ gilt.  Aber dann entdeckt es eines schönen Tages, dass es eben doch Flügel hat, die es nur auszubreiten braucht…
 
207    Ich liebe dieses leider vom Aussterben bedrohte Wort hartleibig! Die älteren Semester unserer Leser werden schon noch wissen, was es bedeutet: der Hartleibige leidet, wie wir bereits in einem vorangehenden Kapitel festgestellt haben,  unter Verstopfung, schon weil es ihm schwer fällt,  sich locker zu machen. Die Symptome, man frage Rüdiger Dahlke (Krankheit als Weg), weisen immer auf ein Zuviel an Stress, aber auch an Anpassungsbereitschaft hin. Auch die lustige Medizinstudentin, die mit ihrem Buch Darm mit Charme einen Riesenbestseller landete, weiß: gerade der Magen-Darm-Trakt widerspiegelt den Druck, dem wir uns aussetzen. Dem Mainstream ist das natürlich alles sehr recht. So kann er wunderbar irgendwelche Mittelchen verkaufen, mit denen wir die Schäden, die er uns zufügt, dann zu beheben versuchen.  Wussten Sie, dass in den Staaten täglich vier  Millionen Dollar allein für Medikamente gegen Sodbrennen ausgegeben werden? Schlechtes Essen in Verbindung mit beruflichem Hochdruck und vielleicht noch ein paar finanziellen Sorgen  ist eine ziemlich  fatale Kombination.
 
208      Diese feierlichen Anlässe haben meist etwas mit einem weiteren menschlichen Grundbedürfnis zu tun - dem der Transzendenz. Kinder nehmen das sehr intensiv wahr. Könnte nicht darin bereits ein Hinweis darauf liegen, dass auch  dieses Bedürfnis nicht erlernt ist, sondern angeboren? Ich würde mich freuen, wenn man in sanften sozialpsychologischen Studien den Beweis dafür erbringen könnte: Religion ist kein leerer Wahn, wie der tendenziell atheistische Mainstream uns weiszumachen versucht. Seine hanebüchenen  Attacken auf die Kirche sind leicht zu durchschauen. Hierzu sei Ihnen vor allen das neue Buch des vielleicht wichtigsten Primatologen der Welt empfohlen, das im Herbst 2015 bei Klett-Cotta erschien: Frans de Waal Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote.  Gäbe es einen Nobelpreis für Biologie, müsste ihn de Waal für seine bahnbrechenden Studien zum Sozialverhalten unserer engsten Verwandten bekommen, die beweisen, dass Hilfsbereitschaft und Empathie in uns vorinstalliert sind. Moralisches Verhalten ist eine Bottom-up-Funktion und nur zum Teil Top-down, wie die Neurowissenschaft inzwischen intuitives (bottom-up) von logikgeleiteten (Top-down) Verhalten unterscheidet.  De Waals Forschungsergebnisse sind so wegweisend, dass man ihm, wenn ich´s recht überlege, auch den Wirtschaftsnobelpreis verleihen könnte - so wie dem Psychologen Kahneman: de Waal  beweist nämlich, dass so gut wie alle wirtschaftstheoretischen Dogmen auf völlig falschen Grundannahmen beruhen, auf einen Menschenbild also, das dringend revidiert gehört!  Ob wir das dem Nobelpreiskomitee nicht einfach mal mitteilen sollten? De Waal zählt ohnehin schon zu den einhundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Selbst für den Friedensnobelpreis dürfte er also ziemlich gute Karten haben, denn das, was er schreibt, wirft ein völlig neues Licht auf den Menschen und seine offensichtlich grundsätzliche Friedfertigkeit. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass man in gewissen Kreisen diese Tatsache nur ungern an die große Glocke gehängt sieht. Warten wir´s ab. Vielleicht setzt sich das Gute ja doch durch. Die Schweden sind schließlich auch nicht auf den Kopf gefallen.   

209       Man verzeihe mir die rhetorische Emphase, die für Wiederholungen verantwortlich sind, aber dieser Punkt ist mir besonders wichtig, weil er unseren Nachwuchs betrifft und da kann ich schon sehr leidenschaftlich werden. Zumal ich finde, dass man Kinder schon in der Grundschule die Möglichkeit geben sollte,  quer zu denken und gegen den Mainstream anzuschwimmen. Sie werden das nämlich noch viel nötiger brauchen als wir! Machen wir ihnen Mut, ihrem inneren Kompass zu folgen. Und vor allem: bringen wir ihnen Kochen bei! Sie haben´ s noch nötiger als wir - denn wir hatten ja noch das Glück, mit weitgehend unbelasteten Lebensmitteln aufzuwachsen.

210      Das Beispiel des Hufschmieds bringe ich hier, weil eine amerikanische Buchhändlerkollegin mich  auf den interessanten Zusammenhang hingewiesen hat, dass einst so Berufswünsche entstanden sind: früher hatten  Kinder die Freiheit, bei ihren Streifzügen durch die (Stadt-)Landschaft mal hier oder dort zuzusehen  und sogar zu helfen. Diese Theorie, die auch von vielen Lehrern unterstützt wird, hat etwas, das sehen inzwischen sogar die Verfechter der Ganztagesbeschulung und - bespaßung ein. Wie gesund kann eine Gesellschaft sein, die ihren Nachwuchs ebenso wegschließt wie ihre Alten?  Doch leider dürfte  hüben wie drüben die Geschwindigkeit, mit der sich  Lehrpläne ändern, etwa im Bereich der Halbwertzeit von Uran liegen: so schnell wird sich daran also nichts ändern, wenn wir nicht ein wenig nachhelfen.  Sonst gibt´s erst in tausend Jahren vielleicht mal das Fach Ökologie. Oder Kreativität. Zwei Themen, die eigentlich schon vorgestern auf sämtliche Curricula gehört hätten - ebenso wie jede Form von Querdenken in jedem anderen Fach auch. Hochrechnen in Mathe! Technologie- und Risikofolgenabschätzung in Physik! Nahrungsmittelzusätze in Chemie! Neuromarketing in Biologie! Die Linguistik der Lüge in Deutsch! Primatenforschung in Sport (kleiner Scherz). Aber ganz im Ernst: Kreative Ideenfindungstechniken könnte man in allen Fächern anbieten. Das sollte man mal auf die Lehrpläne setzen - und sei es auch nur inoffiziell. Aber auf mich hört ja keiner. Wäre ich Lehrer - ich würde zum Guerillero. Ich würde morgens schon mit dem Klappspaten in die Schule gehen und das System unterminieren! Und den Schreibtischtätern in den Kultusministerien so lange auf den Wecker fallen, bis ich in jeder Schule einen ganzen Zweig für besonders kreative Schüler geschaffen hätte. So wie es die Österreicher jetzt schon machen: die Zulassungsprüfungen dafür haben es in sich - doch siehe da: gerade deswegen ist es cool zu dieser Avantgarde zu gehören. Auch in Deutschland gibt es gute Initiativen, nur geht mir das nicht schnell genug, zifix!  (wie man hier im christkatholischen Bayern sagt, wenn man eigentlich ein bisschen fluchen möchte, es aber dann doch nicht wagt)
   
211       Die so genannten peer groups sind der soziologische Fachbegriff für Gruppen von Gleichaltrigen, die sich gegenseitig erziehen. Und dabei gerne auch zu Blöd-, Stumpf- und anderem Unsinn verleiten.

212    Das Checkerdeutsch ist die in der Soziolinguistik inzwischen gebräuchliche Bezeichnung für die Art von Sondersprache, die von den „Obercheckern“, den „Bescheidwissern“ und „Durchblickern“ also, verwendet wird. Da die Gewieften in einer Klasse aber als cool gelten und daher auch Rollenvorbilder sind, versuchen in der Regel  alle anderen deren sprachliche Besonderheiten zu übernehmen. Das ist soweit normal.  Ungewöhnlich  ist beim Checkerdeutsch allerdings eine etwas tiefer gelegte Stimmlage, die wohl männlicher wirken soll und sogar etwas bedrohlich, das heißt,  sie hat etwas unterschwellig Aggressives. Typisch sind außerdem elliptische, also unvollständige und fehlerhafte Sätze, eine Art Pidgin-Deutsch also.  Auch das ist für Sondersprachen normal und theoretisch besteht wohl auch kein Grund zur Veranlassung (wie meine wunderbare Mutter es einst nannte).  Das heißt, man sollte sich eigentlich nicht aufregen, weil sich derlei Dinge angeblich  nach einer Weile wieder geben. Aber ich wage das zu bezweifeln. Wie sagt der Lateiner in freilich anderem Zusammenhang: Semper haeret aliquid - etwas bleibt immer hängen. Mit diesen geil! müssen wir jetzt ja auch leben. Stellen Sie sich mal vor, Sie bewohnen dereinst  ein Altersheim mit lauter Vokuhilas ( Abk. für vorne kurz, hinten lang nach der bevorzugten Haartracht von Hippies älterer Semester) und die Jungs kommen einem ständig mit ey, geil! wenn die Schwester mit dem Abendbrot kommt. Nicht dass ich prüde wäre, aber es entstehen dann so genannte Ambivalenzen: bezieht sich das geil jetzt auf die Schwester? Oder auf den unseligen, bereits eingangs erwähnten vollsynthetischen Kartoffelbrei, mit dem sie uns garantiert abspeisen werden?  Das müssen wir überhaupt verhindern!  Bauen Sie heute schon vor!  Mein Tipp: schließen Sie sich mit Freunden zusammen, werfen Sie Leander Haußmanns zum Brüllen komischen Film Die Dinosaurier in Ihren DVD Spieler und machen Sie sich gemeinsam Gedanken über  einen geordneten Rückzug aus dieser Welt - wir können den auch völlig anders gestalten! Wir können den Rechenkünstlern mit ihren unsäglichen Verpflegungs-Tagessätzen von zwei Euro achtundzwanzig (s.o) bis zum  letzten Abendzug  auf den Wecker fallen!  Diese Seniorenfabriken gehören zu den Dingen, die als erstes geändert werden müssen. Aber die hat der Mainstream schon so voll im Griff, dass wir schon eine Weile sehr früh aufstehen müssen, wenn wir das noch hinkriegen wollen.

213      Es ist bei Piper erschienen. Wir verkaufen davon,  seit es auf dem Markt ist, die exorbitante Zahl von zirka vierhundert  Exemplaren pro Jahr. Das heißt, wir machen mit diesen zauberhaften Buch  mindestens vierhundert Leser glücklich. Falls Sie einmal ein wenig Nervennahrung  brauchen, lesen Sie einfach ein paar Seiten darin, bevor Sie sich, solchermaßen gestärkt, wieder dem Alltag stellen. Nichtsdestotrotz! Sanftmut! Derenthalben! Herzblut! Fürderhin! Gediegen!

214      Ich glaube sogar, dass auch der Wunsch relevante Informationen weiterzugeben, schon in uns  angelegt ist. Das ist zwar nur eine ganz intuitive, persönliche Einschätzung, die ich bislang in der Literatur noch nicht bestätigt gefunden habe - aber es spricht sehr viel dafür, dass Sprache überhaupt erst „erfunden“ wurde, als die Weitergabe von Wissen von einer Generation auf die nächste den entscheidenden Überlebensvorteil unserer Spezies gewährleistete. So sieht es jedenfalls Josef Reichholf in dem faszinierendsten Buch, das ich persönlich über Das Rätsel der Menschwerdung kenne:  so lautet  auch der Titel des 2010 bei dtv erschienenen Standardwerks. Reichholf ist ein genialer Logiker, der u.v.a. die schlüssigste Erklärung dafür bringt, warum der Mensch eigentlich aus seiner afrikanischen Heimat auszuwandern begann. Das Buch ist auch vom erkenntnistheoretischen Ansatz her ein Wunderwerk. Wenn Kinder „altklug“ ihr Wissen weiterzugeben beginnen, könnte es durchaus damit zu tun haben, dass der damit verbundene Vorsprung allen weiterhilft. Möglicherweise steckt in jedem von uns ein kleiner Lehrer, in manchen Fällen sogar ein Oberlehrer, aber das sei jetzt einmal dahingestellt. Die Weitergabe von Wissen ist tatsächlich ein soziales Talent und auch diese Mühe vergütet Mutter Natur mit Glücksbonbons! Tatsächlich könnte jeder das, was er besonders gut kann, anderen vermitteln. Auch so ließe sich die Welt verändern - in kleinen informellen, höchstens gegen einen Unkostenbeitrag angebotenen Seminaren.  Geben Sie einfach weiter, was Sie können - das ist einer meiner besten Tipps!  Gründen Sie einen Brotbackverein! Zeigen Sie, wie man Bäume veredelt, Schwippbögen baut oder Bienenbeuten,  egal. Schweigen Sie nicht! Teilen Sie das, was Sie vielleicht besser können als jeder andere, diesen anderen mit. Damit tun Sie nicht nur etwas Gutes, sondern Sie befördern auch Ihr eigenes Glück.

215  Leider hat besagter, nach einem piranha-haltigen südamerikanischem Fluss benannter Versender dieses Zentralantiquariat jetzt auch noch aufgekauft. Wie ich mir das jetzt schönreden will, weiß ich auch nicht so recht. Es fällt selbst mir hier schwer, darin noch etwas Positives zu erblicken. Ich verspreche Ihnen aber, darüber nachzudenken. Einem ewigen Gesetz zufolge hat nämlich alles Schlechte auch sein Gutes, so wie alles Gute immer ein paar Schattenseiten hat.
Manchmal sieht man sie bloß nicht sofort.   

216     Der distinguierte alte Herr, der so dringend den zweiten Band Anna Karenina  brauchte,  war nämlich im Frühjahr 1945 mit Band eins des besagten Titels bei den nächtlichen Baedeker-Bombardements in einen Luftschutzkeller geflohen. Er war damals gerade mal vierzehn und wie durch ein Wunder dem Volkssturm entgangen.
Als er am Morgen danach den Bunker verließ, stand er vor den Trümmern des Hauses seiner Verwandten, in dem er, nachdem er bereits zweimal ausgebombt worden, mit seiner Familie Aufnahme gefunden hatte. Anna Karenina, Band zwei, in der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1922, war im Feuersturm mit aufgegangen.
    
217   Diese Kaffee- und Trinkgeldkassen in unserer Firma gehören zu unserem internen Reptilienfonds - damit schicken wir Kolleginnen in Urlaub, bezahlen kleine Wellness-Wochenenden für besonders gestresste Mütter, die sich selbst so etwas nie genehmigen würden. Das macht uns allen Freude. Die Verwaltung der Kasse wird demokratisch geregelt. Ein Finanzbeamter, der dies liest, mag darin vielleicht etwas nicht ganz Korrektes erblicken, weil wir damit bestimmt gegen irgendein Gesetz verstoßen. Und doch gebe ich das hier freimütig zu. Ich habe ohnehin die Erfahrung gemacht, dass auch das Auge des Gesetzes schon mal in derlei Zweifelsfällen zugedrückt wird. Eigentlich werden derlei „verdeckte Gewinnausschüttungen“ ja stets gleich aktenkundig gemacht - aber auch nicht immer. Selbst Finanzbeamte kucken, wie man hört, schon mal weg. Weil sie Gott sei Dank Menschen sind. Und vielleicht fuchst es sie inzwischen selbst, dass sie uns das Leben schwermachen müssen und dann wird das viele Geld irgendwelchen Bankrotteuren aufgedrängt, die wieder mal ein paar Milliarden in den Sand gesetzt haben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich könnte hochgehen wie das HB-Männchen, wenn mir wieder mal bewusst wird, dass die Banken damit sogar - im wahrsten Wortsinne - rechnen dürfen, denn sie sind ja  too big to fail. Einst hat die Obrigkeit jedem Pleitier erst einmal die banca ( = den Verkaufsstand) zerstört, die „banca rotta“ war das weithin sichtbare Zeichen für alle, dass da einer nicht vertrauenswürdig war.    

218    Dieser Nebel hat aber auch sein Gutes. Er ist fabelhaft für den Teint! Man spart also schon an Nachttkrem ein, was man hier fürs Hotel ausgibt. Ansonsten muss an dieser Stelle ehrlich zugegeben werden, dass in Lindau im Winter nun wirklich gar nichts mehr los ist. Selbst an Weihnachten hält sich der Betrieb in Grenzen - unter der Woche jedenfalls -,  was vor allem eine Buchhandlung nicht leicht zu ertragen ist. Deswegen ziehen sich die Wintermonate schon. Richtig viel los ist eigentlich nur von Mitte  Juli bis Mitte September. Danach gehört die Insel den Menschen, die Stille suchen.

219      So verschenken wir in unserer Buchhandlung sehr viele Gutscheine für unser Kaffeehaus. Zufällig erhielt auch ein mittelständischer Unternehmer einen und war so beeindruckt, dass er für all seine Mitarbeiter Gutscheine bei uns bestellte, die man in unseren Läden einlösen kann. Glauben Sie mir, es gibt viel mehr Menschen, die Ehre im Leib haben, als man uns gern glauben macht. Die Guten sind überall. Und sie warten nur darauf warten Gutes zu tun!  

220  Hierzu muss ich Ihnen unbedingt ein kleine Geschichte erzählen, die das, worum es mir hier geht, illustriert: kurz vor Weihnachten fragte eine Kundin nach Wilhelm Busch, den sich ihr Vater zum Fest gewünscht habe. Kein Problem: Busch haben wir natürlich stets in allen möglichen Varianten da.  Von einer preiswerten Sonderausgabe mit sämtlichen Bildergeschichten über kleinere Aphorismensammlungen  bis hin zu einem Schuber mit Buschs Gesamtwerk, die mit knappen fünfzig Euro nicht eben billig zu nennen ist, aber sie ein Juwel und man findet darin einen Busch, den man so nicht kennt. Ich stellte der Kundin die verschiedenen Ausgaben vor: das Riesenbuch für fünfzehn Euro, aber eben auch diesen Schuber, den ich selber sehr  liebe. Sie kaufte den Fünfzehn-Euro-Band.
Nur: sie  kam nach einer Stunde wieder und tauschte das eben gekaufte Buch gegen die große Ausgabe um.  Sie müsse einfach die schönere Ausgabe verschenken, weil sie sonst am Heiligen Abend das Gefühl habe, gespart zu haben und das sei ihr zunächst, in dem hektischen Vorweihnachtsbetrieb, nicht sofort aufgefallen. Aber jetzt müsse es eben die große Ausgabe sein. Mich hat der Gedanke, der dahintersteckt, sehr gerührt: feinsinnige Menschen wollen gerade dann, wenn sie schenken, nicht sparen. Das Billige verursacht ihnen Missbehagen. Und obwohl in unserem Falle diese fünfzehn-Euro-Ausgabe ja nicht schlecht war, der Schuber war aber das Non-plus-ultra. Und deswegen musste es eben der sein. Wie war das noch mal mit der selbstsüchtigen Natur des Menschen?    

221  Der Stern widmete diesem höchst interessanten Thema unlängst seine Titelgeschichte. Auch der sehr vernünftige Arzt und Wissenschaftsjournalist Roland Baetens hat - wir erwähnten es bereits - ein sehr kluges Buch darüber geschrieben. In seinem  Terror der Gesundesser (München: Droemer-Knaur, 2015), spricht er aus, was viele von uns schon lange ahnen.
Denken Sie, wenn Sie am Schaufenster einer Apotheke vorbeigehen, nicht auch manchmal an Elke Heidenreichs wunderbares „Dat kann donnich gesund sein“?  Sie hat sich damals schon kritisch bekuckt, was man uns da so alles verkaufen versucht.
Inzwischen könnte sie noch so einiges zu den folgenden Gebresten dazudichten, die man seither erfunden hat:  wie das Night-Eating-Syndrome zum Beispiel.  Wenn Sie nachts mal Lust auf eine saure Gurke kriegen, haben das vielleicht schon und wissen´s bloß noch nicht!  Auch das Sissie-Syndrom ist neu,  wenn auch noch nicht so erfolgreich wie das  Social Anxiety Disorder, an der schon leidet, wer des Abends lieber nach Hause geht und ein anständiges Buch liest, statt auf einer After Work Party - das ist auch so ein Schmu - mit seinem Abteilungsleiter abzuhängen. Mein besonderer Liebling ist vor allem das Post-Weekend-Motivational Syndrome, das abgekürzt noch viel gefährlicher klingt: PWMS. Huh. Wer also am Montagfrüh nur lustlos an seinen Arbeitsplatz schlurft und sich um elfe schon fragt, ob die Woche nie vorbeigehen will, leidet an PWMS! Und das ist kein Witz! Denn dem Mainstream sind Leute, die aus den falschen Gründen den falschen Beruf gewählt haben, sogar richtig lieb, weil er den Lustlosen, den Unglücklichen und den Ausgebrannten dann Pillen und/ oder Therapien verkaufen kann.
Krankheit ist gewünscht - das weiß inzwischen (zumindest theoretisch) jeder!  Wo kämen wir denn hin, wenn alles gesund wäre! Dann würde ja die Psychotherapie am Hungertuch nagen und die arme Pharmaindustrie bliebe auf ihren Placebos sitzen!
Aber apropos Placebo: in Amerika ist man in der Hinsicht schon viel weiter. Dort ist der Branche ein echter Geniestreich mit dem  Hypoactive Sexual Desire Disorder gelungen. Dabei handelt es sich um angebliche  “Unterfunktion“ des Sexualtriebs, bei der man gleich an eine Schilddrüsenunterfunktion denkt (und die ist ja nun wirklich kein Spaß). Die HSDS, die sich auch sprachlich in der Nähe des  Vogelgrippenvirus zu bewegen scheint, wurde in den Staaten planmäßig designt und mit einer geradezu generalstabsmäßig geführten Kampagne umgesetzt:  mithilfe einer Sexual-Satisfaction-Checklist (wahrscheinlich mit eingebautem Lügendetektor) soll man jetzt feststellen, ob man zuwenig Sex hat. Und da wird (mit Verlaub) die Latte auch ziemlich hoch gehängt: wenn die wilde Jagd auf der Bettumrandung nicht wenigstens einmal wöchentlich, sondern nur noch hin und wieder mal an einem verregneten Sonntagnachmittag stattfindet, ist man gleich fällig, also darf man ja nicht zugeben, dass man auf das Geschaukel keinen großen Wert mehr legt.  Ängstlichere Menschen müssen da fürchten, eigentlich in eine geschlossene Abteilung zu gehören, wo man dann durch Porno-Dauerberieselung zum Beispiel und andere Foltermethoden wieder gleichgeschaltet wird. Big Brother is fuckin´u, las ich unlängst als Graffiti in einer U-Bahn und wie die meisten Graffitis ist auch dieses Ausdruck unseres kulturellen Unbehagens. Als ich das las, saß mir übrigens jemand  gegenüber, der in einem dieser von der Pharmaindustrie gesponserten  Apothekenblättchen las. Wenn man sich deren Auflagenhöhe bekuckt, werden selbst große Zeitungsverleger blass. Diese Dinger sind Opium fürs Volk, echt wahr! Sie sollten unters Betäubungsmittelgesetz fallen oder auch unter eines gegen Volksverhetzung,   schon weil sie publizieren, was überhaupt nicht überprüft wurde und garantiert auch keiner (unabhängigen) wissenschaftlichen Analyse standhielte. Sie verbreiten Angst und Schrecken, bieten gleichzeitig aber immer Erlösung in Form von Nahrungsmittelzusätzen, die, wie man inzwischen weiß, eher schaden als nützen. Aber egal. In diesen Blättchen wird weiterhin fröhlich  alles propagiert, was angeblich das Immunsystem stärkt. Das ist auch so ein Wort, das sogar ABC-Schützen so gut wie fehlerfrei buchstabieren können. Erstklässler wissen inzwischen auch, was Omega-3 ist und Selen, sie wissen auch genau, wozu all diese Nahrungsergänzungsmittel gut sind, wo denen sich ein paar besonders Angepasste bereits ernähren. In den Staaten werden sie  so reichlich konsumiert,  dass sie inzwischen schon im Grundwasser nachweisbar sind. So werden über kurz oder lang auch die Stoffe in unsere Nahrungskette gelangen, die andere aufnehmen, wo sie unser eigenes Hormonsystem durcheinanderbringen, aber darüber denkt die Mainstream-Ökonomie  nicht weiter nach, weil sie nur an kurzfristigen Gewinnen interessiert ist. Was sie mit uns vorhat, können Sie am besten also in diesen unsäglichen Apotheken-Rundschauen und in all den glitzerbunten Lifestyle-Magazinen nachlesen. Wenn Sie das nächste Mal auf Sätze stoßen wie: “auch mit siebzig kann (und sollte) man auch“, dann lassen Sie sich nicht einschüchtern.  Nichts müssen wir! Gar nichts. Und mit siebzig erst recht nicht!
Behandlungsbedürftig sind eher die Angepassten, die dieses Credo auch gläubig nachbeten und ihre Partner stressen, weil der nicht so richtig mitzieht und vielleicht lieber lesen will. Demnächst wird man uns garantiert Senioren-Reizwäsche verkaufen, warten Sie´s ab, schön mit Angora drin! So funktioniert nämlich Brainwashing: der Mainstream hat all unsere Befindlichkeiten perfekt unter Kontrolle und verdient nicht eben wenig damit: angeblich nehmen bereits dreiundvierzig Prozent (in Zahlen 43%!) aller Amerikaner Pillen gegen den nachlassenden Sexualtrieb - und das ist eine Zahl, die man sich erst mal schön langsam auf der Netzhaut zergehen lassen sollte, bevor man sie ad acta legt.  Wir reden hier nicht von ein paar Hanseln, die es nicht blicken. Fast der Hälfte aller Bewohner der Neuen Welt  konnte man erfolgreich einreden, dass sie auf auch auf horizontaler  Ebene underachiever sind, was mich auf eine Weise aufbringt, die ich hier nicht weiter beschreiben will, weil ich direkt meine gute Kinderstube vergessen könnte. Dieses Tote-Hosen-Syndrom dringt übrigens gerade auch als behandlungsbedürftige Störung auf den deutschen Markt: ein großer Wiesbadener Arzneimittelkonzern hat schon das passende Mittel dagegen, das ich hier nicht nenne, klar, sonst bekomme ich gleich Post von dessen Rechtsabteilung, wo sicher auch bloß Leute arbeiten,  die an  PWMS leiden. Arme Säcke. Wussten Sie übrigens, dass die Psychotherapie Anfang der Sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr als etwa fünfzig psychische Störungen auf ihrem Schirm hatte? Heute sind es fünf mal so viele! Von PMS über ADHS - für jedes neue Zipperlein gibt´s dann auch neue Mittelchen. Es wäre schon so viel gewonnen, wenn wir uns einfach nicht mehr krank reden ließen: das würde den Globus schon auf spürbare Weise entlasten. Denken Sie immer daran: die Industrie folgt dem bewährten alten Grundsatz Divide et impera. Teile und herrsche! Hau den Keil dazwischen, mach die Menschen einsam, krank, verwirrt und herrsche,  indem du ihnen alles verkaufst, was ihre Not lindern könnte. Das ist das ganz große Geschäft! So hat der  Mainstream die Große Allgemeine Verunsicherung tatsächlich aufs schönste hingebracht. Aber es ist noch nicht zu spät - siehe oben!  Mein bester Buchtipp zu diesem Thema: Cornelia Stolze ( die übrigens Lindauerin ist) Krank durch Medikamente. Wenn Antibiotika depressiv, Schlafmittel dezent und Blutdrucksenker impotent machen (München: Piper 2016). Sehr empfehlenswert sind nach wie vor alle Bücher aus der Feder des Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech: hier vor allem Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden. München: Westend. 2005)  


222 „Chi mangia solo, crepa solo“, sagt man in Italien: wer allein isst, stirbt auch allein. Das klingt möglicherweise etwas hart, aber wenn ich mir bekucke, wie es des abends in Feinschmeckerrestaurants aussieht, könnte ich mir schon vorstellen, dass daran etwas Wahres ist: da sind  stets einzeln sitzende Herren zu erblicken, die so tun, als schmeckten ihnen die blöden Austern, die sie da schlürfen. Aber einen glücklichen Eindruck machen sie mir trotz allem nicht. Da lobe ich mir das  fröhliche Personalessen, zu dem wir uns des Abends in unser Kaffeehaus setzen. Robin Schaele, unser wunderbarer Koch, stellt den müden Kriegern der Tagschicht immer erst einmal einen Topfvoll Glück hin. Danach ist die Welt wieder in Ordnung.   

223      Würde ein Materialist je dieses fabelhafte Gedicht von Ringelnatz verstehen? Schenke groß oder klein/ Aber immer gediegen/ Wenn die Bedachten/ Die Gaben wiegen/ Sei dein Gewissen rein. Schenke herzlich und frei/ Schenke dabei / Was in dir wohnt /An Meinung, Geschmack und Humor, / So dass die eigene Freude zuvor/ Dich reichlich belohnt. Schenke mit Geist ohne List/ Sei eingedenk / Dass dein Geschenk/ Du selber bist. Eine meiner Rothenburger Stammkundinnen, Anna Mund, hat in den fast vierzig Jahren, die sie als Grundschullehrerin unterwegs war, all ihren Kindern dieses Gedicht zum Auswendiglernen aufgegeben. Als sie mich unlängst hier in Lindau besuchte, erzählte sie mir, dass sie zuweilen den einen oder anderen  ihrer alten Schüler trifft und jeder, wirklich jeder, ihr dafür dankt, dass sie ihm diesen kostbaren Rat mitgegeben hat. Was ich wunderbar finde! Seither kann ich das Gedicht auch auswendig.

224    Sie ist zurzeit in zwei wunderschön illustrierten Ausgaben zu haben, bei Neugebauer bzw. bei Ars Edition.  Auch wurde sie gerade eben, im Herbst 2015, von Andrea Sawatzki und Christian Berkel als Hörbuch neu eingelesen. Demnächst finden  Sie die Geschichte (mitsamt einer kurzen Biographie ihres Autors) auf unserer Seite im Netz - ich habe sie neu ins Deutsche übertragen und danke dem obenerwähnten Wolfgang Determann hiermit noch einmal für die Durchsicht des Textes.  
Zu der Shortstory ( und ihrer faszinierenden Entstehungsgeschichte)  ist allerdings noch zu sagen, dass Rationalisten in der Regel gar nichts damit  anfangen können.  Weswegen sie für Weihnachtsfeiern in Bankerkreisen beispielsweise nur bedingt geeignet sind. Eigentlich verstehen sie nur echte Idealisten alter Schule.  Die aber brechen Ihnen fast in Tränen aus.
 
225  und sogar noch meinen ganzen Vorrat an Königsberger Marzipan, den ich nur zu hohen Feiertagen und ganz besonderen Anlässen auf den Tisch stelle. Nur damit Sie wissen, dass es mir mit dieser Aussage wirklich ernst ist.   

226    Und noch etwas ist wichtig: lassen Sie sich deswegen kein schlechtes Gewissen einreden! So Sie das Pech haben,  Materialisten in der Familie zu haben, werden Sie wahrscheinlich immer zusehen müssen,  dass es niemand mitkriegt, wenn Sie Geschenke verteilen, stimmt´s?  So weit hat uns der Mainstream schon: er verlangt von uns, dass wir von morgens bis abends ökonomisch denken.  Daraus hat er schon fast eine Religion gemacht - mit allem Drum und Dran. Mit Katechismus und  eben diesem schlechtem Gewissen, mit  Schuld und Sühne und der Aussicht auf Ewiges Leben, das wir uns durch den Einwurf von Pillen verschaffen. Einen Traumurlaub in irgendeinem Paradies stellt man uns als das Höchste der Gefühle dar, aber da kommt natürlich nur hin, wer wirklich alles richtig macht. In der Religion des Geldes ist die Trauminsel der perfekte Jenseitsersatz,  den nur erreicht, wer nicht einen Fußbreit vom rechten Pfad abweicht.

227    „Der Kapitalismus frisst seine Kinder und in Amerika hat er damit angefangen“, so drückte es unlängst mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel aus.
 
228      Petra Pinzler weist in ihrem Buch Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück ( Pantheon 2011) nach, dass unser ganz privates Glücksempfinden keine Funktion unserer Exportzahlen ist, sondern der Gerechtigkeit, die unsere Regierungen zu gewährleisten imstande sind. Da sie aber immer mehr Entscheidungsbefugnisse an parasitäre Konzerne abgeben, befinden wir uns auch in dieser Hinsicht auf dem absteigenden Ast. Das ist traurig,  aber Petra Pinzler entlässt ihre Leser nicht ohne vernünftige, sehr konkrete Vorschläge. Dass wir in diesem politischen System etwas ändern müssen, ist klar. Die Änderung kann aber nicht, wie  auch Ute Scheub und Annette Jensen in ihrem grundgescheiten Buch Glücksökonomie argumentieren, nicht von oben kommen. Die Veränderungen müssen wir schon selbst bewirken.  Vielleicht sollten wir unsere Volksvertreter mit sanfter Überredung davon überzeugen, dass wir ihnen die Hammelbeine lang ziehen, wenn sie so weitermachen.
 
229      Diese überaus zutreffende Beobachtung stammt nicht von mir, sondern von Heinrich Böll. Die Welt wäre wahrscheinlich ohnehin ein besserer Ort, wenn wir alle so drauf wären wie der typische Rheinländer mit seinem „Et kütt wie et kütt“,  „Et hot noch immer jut jejangen“ und  „Jeder Jeck ist anders“.  Diese fröhliche,  beherzte Haltung dürfte zu einem guten Teil auf ein paar der Gene zurückgehen, die die Römer dort hinterlassen haben.  Zum anderen erklärt sie sich wohl aus  den hervorragenden alkoholischen Getränken, die dort gern - und stets in geselliger Runde  - konsumiert werden und zwar nicht zu knapp. „Man darf auch nicht zuwenig Alkohol trinken!“ rät mir stets eine liebe Freundin, die hier in Lindau lebt, die aber  in Düsseldorf geboren und aufgewachsen ist. Helga Theile hat sehr recht: Evolutionsbiologisch betrachtet ist der Mensch perfekt an Vergorenes angepasst. Lassen Sie bloß von den Apothekenblättchen, die alle Mainstream sind,  nicht einreden, dass ein Feierabendbierchen uns gleich als Alkoholiker ausweist - das entbehrt,  ebenso wie fast  alles andere  in diesen Blättchen, jeder wissenschaftlichen Grundlage, macht uns alle aber um einige entspannte Momente ärmer. Außerdem ist, wie sich gerade herausstellt, ein anständiges Bier ohnehin gesünder als all die mit Maissirup gesüßten und mit Aromen verfremdeten Softdrinks, die auf die Dauer jeden krank machen.
Aber vielleicht ist das ja gerade die Absicht: Krankheit kommt der Industrie durchaus zupass, das ist niemandem neu.
Warum Alkohol in Maßen der Gesundheit nicht sogar förderlich sollten, ist nicht einzusehen. Wenn Sie  Ihr Bierchen bzw. Ihren Wein trinken, vorzugsweise  im Verein mit andern, können die schönsten Dinge geschehen!  Gute Ideen haben ihre Karriere sehr oft auf Bierdeckeln begonnen. Ganz ehrlich, wenn wir die Welt retten wollen, brauchen wir alle Ideen, derer wir habhaft werden können! Auch die so genannten Schnapsideen, die ja deswegen so heißen, weil sie nur in relativ stressfreier Atmosphäre entstehen. Wie sagte Einstein?  „Eine Idee, die nicht zuerst verrückt erscheint, taugt nichts!“  Es muss ja nicht gerade Schnaps sein!
Met zum Beispiel ist eine prima  Alternative. Er macht einen - am nächsten Morgen! - auf eine Weise kreativ, die Sie verblüffen wird. Sie reißen Bäume aus, versichere ich Ihnen!  Weswegen der alte Pfarrer Kneipp, obwohl er sonst nichts von Alkohol hielt, seinen Jüngern diesen alten Germanentrunk  ausdrücklich empfahl. Ein halbes Weinglas voll  Met am Abend und Sie heben ein paar Stunden später die Welt aus den Angeln. Warum das so ist, hat mir noch kein Imker erklären können, aber es ist so. Möglicherweise sind es die verschiedenen hochkomplexen Zuckerarten darin, die das Gehirn mit einer gewissen Verzögerung aktivieren und zwar schön eine nach der anderen, sodass man über viele Stunden hellwach und hochkreativ ist. Das ist noch nicht erforscht, deswegen kann ich Ihnen darüber  noch nichts Abschließendes mitteilen, aber ich bleibe dran.   Zunächst sei Ihnen hier noch ein Tipp mitgegeben:  nehmen Sie immer etwas Gescheites zu schreiben mit, wenn Sie sich auf ein Feierabendbierchen mit Freunden treffen.  Bierfilze sind zum Festhalten großer oder auch kleiner Gedanken nicht optimal, schon das Wort ist hässlich. Filz! Der ist und bleibt nämlich das größte Problem. Denn wie wir mit Korruption fertig werden wollen, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt. Doch eins nach dem anderen! Produzieren Sie ruhig erst mal Ideen - wie realistisch sie sind, kann man später sehen. Ich persönlich wende für derlei ( leicht alkoholgestützte) Denkrunden in unserem Kaffeehaus einen kleinen Trick an, eine Volte sozusagen (s.u.):  ich verteile in einer Runde nur gelbes Papier für sonnige, übermütige  Gedanken und positive Einfälle. Die negativen, die die großen Verhinderer immer gleich anbringen, müssen erst mal warten. Dann folgt, in der nächsten Runde, grünes Fotokopierpapier: darauf schreibt man interessante Aspekte, die auch noch zum Thema passen würden. Dann kommt noch eine Runde himmelblau und erst ganz zum Schluss rücke ich das rote Papier heraus, auf dem dann die möglichen Probleme skizziert werden. Das Gute an dieser schlichten Denktechnik ist aber, dass ein paar Ideen Zeit genug haben, Wurzeln zu schlagen und auch ein wenig zu wachsen,  bevor die Oberbedenkenträger mit dem Unkrautvernichtungsmitteln ihrer Kritik anrücken. Das klappt stets aufs schönste. Mehr über diese  bei Edward de Bono abgeschauten kreativen Techniken ist für den zweiten  Band dieses Handbuchs geplant. Wenn sich denn überhaupt genügend Idealisten finden, die das hier lesen wollen. Manchmal, in sehr dunklen Momenten, ficht auch mich der Zweifel an, wenn ich zum Beispiel des Abends zwischen acht und acht Uhr fünfzehn Tagesschau sehe. Was ich inzwischen vermeide: da arbeite ich doch lieber.    

230 Revolte heißt sprachlich gesehen nichts weiter als Umkehr. Voltare ist italienische Wort für drehen, wenden, wirbeln, das sich über das Vulgärlateinische aus dem gleichbedeutenden  lateinischen Verb volvere entwickelt hat. Verwandt ist die Revolte also mit der Volte - gemeint ist damit ein Kunstgriff ( ursprünglich aus dem Kartenspiel), kein Trick, eben nur ein geschickter Kniff. In der Fechtkunst ist die Volte ein seitliches Ausweichen und in der Reitkunst das nicht ganz einfache Reiten eines Kreises von kleinem Durchmesser. In all diesen Bedeutungen steckt immer eine Form von hoher Geschicklichkeit oder Expertise, mit der man die Dinge wenden kann. Die muss allerdings erst einmal erworben werden. Wir könnten aber mit einer Reihe von geschickten Schachzügen  sehr viel erreichen - völlig gewaltfrei übrigens und fair für alle Beteiligten.  Doch um zu gewinnen, müssen wir eben auch etwas wagen. Wir müssen das Spiel mitspielen. Vertrauen wir einfach darauf, dass uns die Lösungen dann schon zufallen! Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige - das ist eines der schönsten Zitate, die wir Josef Altemöller, unserem wunderbaren Vater, zu verdanken haben. Er brachte all seinen Kindern  Schachspielen bei, noch bevor sie zur Schule gingen und zwar nicht nur, weil das etwas ist, was man für sein ganzes Leben braucht. Sondern weil das Schachspiel uns lehrt, in Konsequenzen zu denken. Vorausschauend also.
Vielleicht gäbe es auf dieser Welt nur noch halb so viel Müll, wenn wir alle zusammenlegten und den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft ein paar Schachspiele zu Weihnachten schenken würden?
Aber apropos Weihnachten, dazu muss ich Ihnen unbedingt noch eine kleine Geschichte erzählen, die gut in diesen Zusammenhang  passt. Auch darin spielt unser wunderbarer Alter Herr eine tragende Rolle.
Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass er Weihnachten 1964 ein Buch geschenkt bekam, das er später immer und immer wieder lesen sollte: Johannes Mario Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein nämlich, aus dem er uns gern auch ganze Passagen vorlas, obwohl wir damit noch nicht allzu viel anzufangen wussten. In dieser turbulenten - übrigens auf Tatsachen beruhenden Geschichte - geht es um einen charmanten polyglotten Hobbykoch, der 1939 unversehens zwischen die Mühlsteine der Politik gerät, dann aber trotzdem Gutes bewirkt, indem er die Teufel gegeneinander ausspielt und die Anständigen um seine Kasserolen herum versammelt und auf seine - gewaltfreie - Linie einschwört: damit könnten wir heute noch genauso punkten.  Dieser wunderbare Schelmenroman hat einer ganzen Generation das vermittelt, was man auch Comic Relief nennt und was seither durch meine Seele spukt: ich wünschte mir damals, meine Mitmenschen genau so glücklich machen zu können wie Simmel mit seiner herrlichen Simpliziade, die damals Balsam für die geschundenen Seelen seiner Generation gewesen sein dürfte. Er hat sie mit seinem zum Brüllen komischen Buch so verarztet, dass endlich der Schmerz nachließ und man frei war für Neues. Simmel ist außerdem zu verdanken, dass sowohl unser Vater wie auch all seine Kinder ernsthaft zu kochen anfingen, denn die Rezepte, die Simmel en passant verrät, sind einfach wunderbar, wenn man von der Lady Curzon Suppe mal absieht. Bis dahin, bis zu jenem alles entscheidenden Weihnachtsfest 1964, hatte sich die kulinarische Kompetenz unseres Vaters auf das Erhitzen von Doseninhalten undurchsichtiger Zusammensetzung beschränkt. Doch dann begann er unter Simmels Einfluss ernsthaft Mutters Küche umzukrempeln und seinen Nachwuchs zum Zwiebelschnippeln und Kartoffelschälen zu rekrutieren. So gab es fürderhin Sardinentoast und Eier “Joséphine”, gefolgt von Schwedenfrüchten oder Kastanienpüree mit Schlagsahne, wenn auch nur Sonntags bzw. immer dann,  wenn unsere verehrte Mama für den Müttergenesungsverein unterwegs war oder auch auf einem ihrer anderen Raubzüge für wohltätige Zwecke, die heute unter der Bezeichnung “fund raising“ laufen.  Wenn meine Brüder und ich heute noch ein Mosaikbrot und gefüllte Tomaten aus dem Hut respektive aus einem ansonsten  völlig leeren Kühlschrank zaubern können, ganz zu schweigen von Zwiebelsuppen, mehr oder weniger komplizierten Soßen und flambierten Eierkuchen, so ist das einzig und allein diesem einen Buch zu verdanken. Ja, und auch die feinen Pfifferlingbuletten, vor allem aber die Sellerieschnitzel “Genfer Art“, die wir heute in unserem Kaffeehaus anbieten, gehen auf ein Originalrezept von Simmel zurück. Da sage mir noch mal einer, dass sich mit Büchern nichts ändern lässt!  Ohne Simmels Kaviar wäre mein Leben jedenfalls, soviel steht fest, ganz anders verlaufen. Möglicherweise hätte ich nie ernsthaft zu kochen angefangen  und mir stattdessen mit glutamat- und e-nummerngesättigten Fertiggerichten das Hirn weggeätzt, wer weiß.  Und vielleicht, ganz sicher sogar, hätte ich nie mit dem Schreiben angefangen, hätte uns Simmel nicht mit dem eingangs erwähnten, sagenhaft schönen Satz beschenkt: “Natürlich kann man als Schriftsteller die Welt nicht verbessern. Aber man kann die eine oder andere Sauerei abstellen.”  

231      Wir öffnen übrigens um neun. Meine Kollegin Angela Roeder, die stets die frühe Schicht übernimmt, bringen derlei fernmündliche Anwürfe stets ein wenig aus der Fassung. Wir brauchen dann immer erst einmal eine Runde Kaffee oder Tee und eine „Butterseele“, die wir uns schwesterlich teilen. Bei diesen Seelen  handelt es sich um ein oberschwäbisches Traditionsgebäck, das es wirklich nur in dieser schönen Ecke das Landes gibt und das allein schon ein Grund ist, um hier zu leben. Es ähnelt einer Baguette, schmeckt aber völlig anders, weicher, salziger, intensiver. Die Seele heißt u.a. so, weil sie am Allerseelentag an arme Seelen verteilt wurde. Es ist mir ein völliges Rätsel, warum es dieses überköstliche Gebäck nur hier gibt - meinen früheren Rothenburger Buchhändlerkollegen muss ich immer eine ganze Ladung voll mitbringen, wenn ich da bin. Seelen kann man selbst backen - das Rezept finden Sie im Internet, der Teig ist allerdings  nicht so leicht in der Handhabung. Er ist, wie man hier sagt, etwas „schlotzig“.  Versierte Kenner des Hefeteigs werden beim Anblick des Teiges dann auch unsicher - aber er wird wirklich wunderbar. Sobald Sie die Pampe auf dem Blech haben, kommt er aufs schönste. Zuweilen denke ich darüber nach, wie schön es doch wäre, wenn überall diese Seelen gebacken würden - und wenn sich Menschen, die sich ernsthaft um diesen Globus Sorgen machen, zum Abendbrot mit anderen verabreden, die ähnlich ticken. Ich schicke Ihnen mein bestes Rezept für diese Seelenwärmer auch gerne per e-Post zu! Wenn Sie uns dafür die Ideen schicken, die Sie mit Ihren „Seelenverwandten“ entwickelt haben….

232  Kann mir bitte ein Wissenschaftler erklären, warum anständige Menschen, wenn solch herzerwärmende Dinge geschehen, diese besondere Art von Gänsehaut bekommen, die sich immer ein wenig wohlig anfühlt? Wie erklärt sich dieses Phänomen? Da fliegt die Menschheit nun auf den Mond, wenn auch nicht sehr häufig  - aber man weiß nicht mal schlüssig zu erklären, warum wir beispielsweise gähnen oder niesen. Oder eben diese Gänsehaut entwickeln, die wohl Teil eines Glücksschauers ist. Jeder kennt dieses Gefühl, das wir haben, wenn wir Zeuge von etwas sehr Gutem, Menschenfreundlichen werden. Die bloße Tatsache, dass es dieses Gefühl gibt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass  Mutter Natur uns als soziale Wesen gedacht hat. Zum Thema Gähnen sei noch zu vermelden, dass die Gähnforschung (die es wirklich gibt! Kein Witz!) inzwischen so einiges Einschlägige herausbekommen hat.  So weiß man heute, dass die ansteckende Wirkung dieser Lebensäußerung nicht auf Menschen mit defekten Spiegelneuronen wirkt. Das heißt - vorsichtig ausgedrückt:  Personen, die unter APD (=Antisocial Personality Disorder) leiden, also unter antisozialen Persönlichkeitsstörungen, lassen sich vom Gähnen anderer kaum oder überhaupt nicht anstecken lassen.  Wenn das stimmt  - und dafür spricht so einiges! - hieße das, dass die Sozio- und Psychopathen, die gerade unseren Globus plündern, so etwas wie einen Gendefekt haben, der dafür sorgt, dass die Spiegelneuronen nicht oder nur unvollständig ausgebildet werden, denn sie sind die Grundlage unserer Empathiefähigkeit. Das klingt, wie ich gerne zugebe, zwar sehr kompliziert, zumal derzeit wieder mal Wissenschaftler aus allen Löchern kriechen, die behaupten, dass es diese Spiegelneuronen gar nicht gibt! Das sind übrigens dieselben, die behaupten, die Erde sei eine Scheibe. Vielleicht haben sie ja  bloß keine Lust umzudenken, wer weiß. Vielleicht fehlt ihnen aber auch die entscheidende Menge gray matter….Möglicherweise versuchen sie aber auch nur um jeden Preis zu verhindern, dass man durch ganz einfach Empathie-Tests ermitteln könnte, welche Führungspositionen man lieber doch mit anderen Personen besetzen sollte. Denn soviel steht fest: wenn wir die Psychopathen in Frührente schicken könnten, würden tatsächlich in den Teppichetagen der Welt so einige Sessel frei.

233      Es gibt ein hervorragendes, von Peter Zudeick herausgegebenes Buch, das im Herbst 2013 bei Piper erschienen: Was ich alles tun würde, wenn ich Kanzler von Deutschland wäre: Kinder und Jugendliche formulieren darin ihre Ideen. Könnte mal einer bei den Angehörigen der politischen Kaste herumhören, ob die das schon gelesen haben? Ich bezweifle es.

234    Erinnern Sie sich noch an die wunderbaren Ereignisse im November 1989, als der Regierungssprecher Alexander Schalck-Golodkowski, der irgendwie die neueste Entwicklung verpennt hatte, wild ins Improvisieren geriet, was dazu führte, dass wenige Stunden später die Mauer fiel? Seine linientreuen Genossen hätten ihn fast gelyncht dafür, wenn sie vor lauter Kofferpacken dafür noch die Zeit gefunden hätten. Na ja. Vielleicht wenden Sie jetzt ein, dass  sich aber auch genauso leicht alles zum Schlechten wandeln kann. Das stimmt schon. Ich denke aber, dass sich das Gute leichter erfüllt als das Schädliche. Das Schädliche hat keine so große Eigendynamik wie das Gute. Das klingt esoterisch, ist es aber nicht:  sozial richtiges, also auch im moralischen  Sinne gutes Handeln ist in uns  ebenso vorprogrammiert,  wie - über das schlechte Gewissen - ein Widerstand gegen antisoziales Verhalten. Wenn wir von Natur aus Egoisten wären, wie man uns nicht erst seit Darwin suggeriert - wozu diente denn dann bitte das schlechte Gewissen? Das ist auch so etwas, was die Ökonomen gern übersehen. Dieses unbehagliche Gefühl, das wir haben, wenn wir den rechten Pfad verlassen und selbstsüchtig handeln, ist übrigens keine Erfindung des Christentums. Es ist eine natürliche Hemmung, die zur Serienausstattung vieler Primaten gehört.  Selbst Hundebesitzer  wissen den Blick ihres vierbeinigen Freundes zu deuten, wenn er etwas „ausgefressen“ hat. Was lehrt uns das? Dass die  Chefideologen des Prinzips Eigennutz auf dem Holzweg sind. Ob absichtlich oder unabsichtlich sei jetzt mal dahingestellt. So einige von ihnen glauben schätzungsweise an ihre eigenen Lügen - diese Wahrnehmungsverzerrung ist inzwischen als selbstwertdienliche Überzeugung bekannt.

235  Eine Berliner Kollegin von mir ist übrigens mit einem solchen enhancer liiert, zumindest steht das so auf seiner Visitenkarte. Lange Zeit sprach enhancement immer aus wie „Hänschen klein“, bis ihn ein amerikanischen Besucher davon in Kenntnis setzte, dass dieses enhancement ein wenig hinzunäseln ist. Was mich an  den eingangs erwähnten George W. („Double-U“) Bush unseligen Gedenkens erinnert, der sich in einer Rede über den mangelnden  Unternehmergeist - amerikanisch entrepreneurship-  der Franzosen zu mokieren versuchte. „The French do not even have a word for entrepreneurship!“ ließ er verlauten, wobei er sich vor lauter kindlicher Freude über diese stilistische Gipfelleistung kaum zu fassen wusste. Ich erinnere mich so genau daran, weil ich damals in Amerika war und vor lauter Kopfschütteln über soviel Ignoranz kaum noch nachkam: solche Strategen sitzen allenthalben an den Knöpfen,  die auch genauso gut einen Atomkrieg auslösen könnten. Und eigentlich brauchen wir nur jetzt wieder Washington zu schauen, wo demnächst vielleicht ein neuer Präsident seinen güldenen Thronsessel ins Oval Office schleppt und sich krönen lässt. Ich schließe ihn inzwischen in mein tägliches Abendgebet mit ein: „Lass diesen Trump bitte an uns vorbeigehen.“

236  ….Wir wollen drittens nicht, dass man Kälbchen schlachtet und arme Schweine über Tausende von Kilometern karrt, um sie an einem Ort  vom Leben zum Tode zu befördern, wo die Löhne billig sind und keiner so genau kuckt, was mit den Abfällen geschieht oder auch mit dem so genannten Separatorenfleisch, dessen Verwendung hierzulande verboten ist, das aber andernorts bedenkenlos verwurstet wird. Um dann hier bei den Discountern wieder in Gestalt von mehr oder weniger ominösen, jedenfalls aber sehr preiswerten Fleischwaren wieder aufzuerstehen. Man will das zwar eigentlich gar nicht so genau wissen, aber  auch dazu gibt es in gescheiten Buchhandlungen so einiges an Lesestoff, nach dessen Lektüre man garantiert Vegetarier oder gar Veganer ist. Dass auf der Speisekarte unseres Kaffeehauses nur Vegetarisches zu finden ist, braucht sicher nicht erwähnt zu werden. Das ist so klar wie Kloßbrühe. Und wissen Sie was? Alle finden´s fabelhaft.

237  Deswegen haben mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel  und ich uns letztens einen langen Sommerabend lang überlegt, wie sich eine solche Maßnahme bewerkstelligen ließe. Ulrichs  Idee, sie ganz einfach auszuzahlen, ist also gar nicht so ohne. Der gesellschaftliche Nutzen, den eine solche Maßnahme hätte, überstiege jedenfalls die Kosten um ein Vielfaches - vor allem, wenn man die so genannten Opportunitätskosten mit einrechnet, über die im nächsten Band noch so einiges zu berichten sein wird.  So könnte man zum Beispiel für die weniger schlimmen Fälle, die Mitläufer sozusagen,  eine unbewohnte tropische Insel anmieten, dort ein paar Bungalows bauen und vielleicht noch einen schönen Süßwasserpool, an dem sie den ganzen Tag abhängen,  Monopoly spielen und sich gegenseitig auf die Palme bringen können. Kochen und putzen müssten sie allerdings selber.
All die anderen Jungdynamiker, die uns gern das Leben schwer machen,  würde ich auf eine ganz abgelegene Insel ausquartieren, am besten auf eine, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Da können sie dann mal zeigen, was wirklich in ihnen steckt und ihre Tatkraft auf das Öffnen von Kokosnüssen verwenden.  
Im Unterschied zu Ulrich Frewel würde ich die Bedauernswerten  immerhin  mit ein paar Zeltplanen und einem halben Dutzend  Survival-Handbüchern von Rüdiger Nehberg ausstatten und vielleicht auch noch mit ein paar von diesen kindersicheren Taschenmessern mit abgerundeter Klinge, auf dass sich garantiert auch keiner wehtut. Auch würde ich höchstpersönlich jedem noch ein  Briefchen Streichhölzer zustecken - damit sie zu Anfang nicht ganz ohne dastehen, nur mit abgesägten Hosen also und ohne Feuer. Jeder, der Tom Hanks in Cast Away  erlebt hat, weiß ja, dass Feuermachen nur theoretisch ganz einfach ist, sich in der Praxis aber schon mal schwierig gestalten kann. Einig sind mein geschätzter Kollege und ich uns aber, was die Weiterverwendung von Börsenfritzen betrifft. Für die Befürworter transatlantischer Freihandelskommen (TTIP, CETA, TAFTA etc.etc.) und den Import von Chlorhühnchen würden wir  die Daumenschrauben schon noch etwas stärker anziehen. Für all die Schreibtischtäter und Kennzahlenverwalter, die ihre Brötchen mit Cost-Killing, Controlling und „profit enhancement“ (s.o)  verdienen - für Jobs also, bei denen man Leute entlassen oder auch „nur“ stressen muss -  ist eine tropische Insel viel zu schade, zumal die Gefahr besteht, dass sie gleich damit anfangen, sämtliche Palmen abzuholzen. Für diese Bande würden wir entweder eine aufgelassene Bohrinsel im Golf von Mexiko anmieten oder, was pädagogisch noch sinnvoller wäre,  ein paar hinreichend große, jedoch schwer zugängliche Landstriche im nördlichen Polarkreis, wo man (angeblich)  einhundertundacht verschiedene Ausdrücke für Schnee, dreiundsiebzig für Makrele und keine für Kreditkarte hat. In diesen Weltgegenden gestaltet sich bereits die Organisation eines Frühstücks relativ schwierig, von anderen warmen Mahlzeiten ganz abgesehen. Vielleicht könnte man ja eine wöchentliche Lieferung  von Honigpops vorsehen, denn sonst geben sie ja gleich den Löffel ab und dann ist es auch wieder keine Strafe, schlug ich vor.  Vielleicht könnte man das eine oder andere Tiefkühlgericht mitschicken, dessen Lagerung da oben ja kein Problem machen dürfte. So bräuchten die Jungs dann nicht mal auf ihre Fischstäbchen zu verzichten, wenn ihnen der für die Gegend jeweils zuständige Jagdgott gerade mal abhold ist. Das gebietet allein schon die christliche Nächstenliebe, die ja zumindest theoretisch immer davon ausgeht, dass auch die schlimmsten Sünder bekehrt werden können. Was mir persönlich die christliche Nächstenliebe immer sehr sympathisch gemacht hat.
Doch zurück zu unseren Inselbegabten:   Die mittelschweren Fälle, die Dilettanten also, die im Unterschied zu den Korrupten ja eigentlich nichts Böses im Schilde führen, würden wir - darin waren sich Ulrich und ich einig - auf ein zum Azoren-Archipel gehörendes Inselchen schicken, wo sie den von ihnen beförderten Klimawandel hautnah miterleben können. Für sämtliche Glücks- und Spesenritter und die vielen Trittbrettfahrer sodann würde ich eine Insel vor der irischen Küste vorschlagen, wo es nur Schafe gibt und ein Kloster aus dem frühen neunten Jahrhundert, in dem sie sich läutern können. Obwohl das mit dem Läutern in unbeheizten Räumen  immer etwas schwierig ist. Vielleicht könnten sie ja in der Küche arbeiten und für alle Mann Kartoffeln schälen, dann machen sie sich ein wenig nützlich. Seit jenem schönen Sommerabend, da Ulrich und ich diese netten, wenn auch nicht ganz so leicht realisierbaren Ideen entwickelten, denke ich öfters mal an all dieses Inselprojekt. Ich bessere auch schon mal die eine oder andere Idee dazu nach, wenn ich nicht schlafen kann. So kam ich vor ein paar Wochen darauf, dass es noch eine Sorte von Zerstörern gibt, für die man  noch eine Spezialinsel bräuchte - für die Zyniker nämlich. Zyniker sind nicht unbedingt korrupt, dumm sind sie auch nicht. Zyniker sind - verkürzt ausgedrückt - die Leute, die genau wissen, dass das, was sie tun (oder sagen), moralisch verwerflich ist, die es aber dennoch tun bzw. sagen. Mit Zynikern ist nicht gut Kirschen essen, aber eigentlich sind sie zu bedauern,  weil sie - im Unterschied zu den etwas Unterbelichteten und den Korrupten  jahrzehntelang gegen ihr Gefühl anleben müssen, was sich immer irgendwie rächt. Deswegen würde ich sämtliche Zyniker nicht zur Strafe,  nur zur Übung in Bangladesh zum Beispiel eine Schule bauen lassen oder irgendein anderes Modellprojekt. Ich wette, dass selbst die härtestgesottenen Zyniker binnen kurzem mit roten Backen und blitzenden Augen unterwegs sind. Ich glaube wirklich und wahrhaftig daran, dass wir sie umdrehen könnten - durch geschickte Formen von Ergotherapie zum Beispiel oder auch die eine oder andere Sozialstunde.  

238    Das wird allerdings kein Spaziergang, soviel muss uns klar sein! Jeder Hundebesitzer weiß - bis man das liebe Tier soweit hat, dass es nicht mehr zieht, können einem graue Haare wachsen. Und manch einer schafft´s auch nie. Einer meiner Brüder hat einen entzückenden und eigentlich auch sehr anständigen Hund, von dem er behauptet ( siehe oben: selbstwertdienliche Überzeugung), dass er aufs Wort gehorcht. Wenn er ihn nämlich frage „Kommst du jetzt oder kommst du nicht?“, dann kommt er oder kommt er nicht. Was will man mehr.   

239    Dass Geld allein nicht glücklich macht, hat sich ja nun schon überall herumgesprochen - ebenso wie der pfiffige Zusatz “Aber es beruhigt ungemein”. Ich bezweifle allerdings, ob ein durchschnittlicher Cost-Killer wirklich so gut schläft, wie wir uns das vielleicht vorstellen. “Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen” weiß der Volksmund zu berichten - und daran ist, wie an allen Beobachtungstatsachen, auf die er im Laufe der Zeit gekommen ist, eine ganze Menge Wahres: Zu den sozialen Talenten, die Mutter Natur uns mitgegeben hat, gehört, wie wir gesehen haben,  u.a. unser angeborenes Gefühl für Fairness. Sobald wir dagegen verstoßen, lässt uns unser Gewissen keine Ruhe - denn eben dieses Gewissen ist auch eine Erfindung der Schöpfung, mit der antisoziales Handeln reguliert wird. Es ist unglaublich schlau gemacht: Mutter Natur hat es  bereits auf der Festplatte unseres Hirnstamms vorinstalliert. Es  wird dann aber von der Kultur, in der wir leben, noch einmal entscheidend geprägt. Diese Flexibilität ist nötig, da eine Gruppe selber entscheiden muss, was in ihr als asozial/ antisozial  gelten sollte und was nicht. So erklärt sich u.v.a. dass die katholische Kirche im Laufe ihrer Geschichte leider vielen Gläubigen ein schlechtes Gewissen machen konnte, womit sie leider nicht gut beraten war. Aber das schlechte Gewissen ist keineswegs eine Erfindung des Christentums, wie atheistisch Denkende gern behaupten, vor allem dann, wenn sie uns zu ihrem Atheismus zu bekehren versuchen. Mein Tipp:  lassen Sie sich wegen dieses schlechten Gewissens kein schlechtes Gewissen machen!  Ziehen Sie vom Christentum  ganz einfach die olle Kirchengeschichte ab, die man uns immer unter die Nase reibt, und schon ist der Blick wieder frei auf das, was Christus einst sagte. Und das ist damals wie heute weltbewegend.      

240     Die Kleine Buchhandlung um die Ecke hat wahrscheinlich auch die die zauberhafte Geschichte vom Mann, der Bäume pflanzte von Jean Giono vorrätig. Sie ist zwar leider nicht wahr, aber trotzdem wunderbar! Und wenn es sie nicht schon gäbe, müssten wir sie glatt erfinden. Wir können es diesem Mann, der Bäume pflanzte,  nachtun und wirklich Bäume pflanzen oder aber die Samen dafür verschenken - vielleicht auch im übertragenen Sinne: jeder von uns  kann nämlich etwas, das auch andere bereichern wird. Wenn wir ganz einfach dieses Wissen/ diese Kunst weitergeben und (vielleicht sogar kostenfreie) Seminare anbieten, wäre viel gewonnen. Im Wort  Seminar steckt übrigens die assyrische (!) Wurzel für Same und Mehl, die auf den sehr verschlungenen, geheimnisvollen Wegen, die Sprache zuweilen nimmt, noch in unsere Semmel  gelangt ist. Wer hätte das gedacht?  Seit ich das weiß, betrachte ich mein Frühstücksbrötchen mit ganz anderen Augen. Linguisten freuen sich über solche Fundsachen stets wie ein Archäologe über eine Scherbe von Anno Tobak.    

241  Die Masche mit der Firmenphilosophie, die bei vernünftigen Menschen  schon lange nicht mehr zieht, ist übrigens noch in anderer Hinsicht aufschlussreich: lebte Freud heute, hätte er dafür vielleicht das Wort Bildungsneid erfunden. Tatsächlich scheinen es diese Rechengenies nämlich  irgendwie nötig zu haben, aus ihrer von eiskalter Rationalität geprägten Lebenswelt eine Philosophie zu machen und eine Unternehmenskultur zu begründen. Das ist irgendwie rührend - die Jungs sollten einem sogar fast leid tun. Weil sie eigentlich lieber bei uns mitspielen würden. Der Gedanke scheint zunächst vielleicht  etwas abwegig, wie ich gern zugebe. Und doch spricht gerade in letzter Zeit so einiges dafür. Der frische,  postmaterialistische Wind, der sich aufgemacht hat, ist offensichtlich auch in den Teppichetagen spürbar - und siehe da: plötzlich kommen uns die Nadelstreifenfuzzis mit esoterisch angehauchten Zen-Sprüchen, ja sogar mit Achtsamkeit, von der sie soviel Ahnung haben wie ein Fadenwurm von Spektralanalyse. Und weil sie immer gleich eins draufsetzen müssen, haben sie auch noch ein paar ganz schicke neue Wörter wie Work-Life-Balance, Quality-Time und vor allem dieses ewige win-win  dazuerfunden, worüber ich mich im nächsten Band aufregen werde. Darauf freue ich mich schon jetzt! Über besagte „Philosophie“ der „Visionäre“ in Politik und Wirtschaft ist auch in Roland Kaehlbrandts bereits obenerwähnten Logbuch Deutsch höchst Interessantes nachzulesen: „Visionen“,  definiert er darin,  „sind im modernen Imponierdeutsch genialische Vorwegnahmen künftiger gesellschaftlicher Verhältnisse, möglichst unter Bezugnahme auf Gewinn- und Erfolgversprechen.“
Diese polyglotten Genies finden natürlich nichts dabei, Wörter ins Deutsche verschleppen wie Viren, für die es noch keinen Impfstoff gibt. Wenn man Pech hat, schleichen sich diese linken Bazillen dann auch noch  in die DNA unseres Satzbaus ein, wie dieses unscheinbare  „für mehr Information“ zum Beispiel  „for more information call etc.etc.“, das sich gerade eben überall festsetzt und offensichtlich jetzt schon nicht mehr loszukriegen ist.  So hat das Englische ohnehin schon den deutschen Finalsatz angesteckt:  „das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken“, gilt inzwischen als allgemein akzeptierte Weisheit, die nur noch bei empfindsameren Sprechern grammatisches Unbehagen auslöst. „Die Kohlblätter müssen zuerst blanchiert werden, um sie verwenden zu können“ hört (und liest!) man jetzt allenthalben und keiner sagt was.
Außer Roland Kaehlbrandt eben. Der wahrlich polyglotte Linguist amüsiert sich  nicht nur über das berühmt-berüchtigte Globish der schöselhaften Jungdynamiker, die vor lauter Englisch  kein Deutsch mehr können:  „Für mich ist ein fein, am Ende des Tages“ ist eines der Beispiele, die dem Leser geradezu die Sprache verschlagen, denn sie dürften dem Begriff Stumpfsinn eine völlig neue Dimension geben. Darin steckt das nicht wesentlich bessere  “For me it´s fine, at the end of the day“….Vielleicht sollte man solche Sätze wirklich mit einer fine belegen, einer Geldstrafe nämlich.  Roland Kaehlbrandt denkt aber noch weiter:  wenn überall an unseren Unis Englisch als erste Sprache eingeführt wird - so wie es vielen Konzernen schon jetzt der Fall ist - wird  das kurz über lang zu einem weiteren Kreativitätsverlust führen. Denn wirklich kreativ sind wir vor allem in unserer Muttersprache - sie allein hat nämlich Zugang zu unserer Intuition. Wenn an unseren Hochschulen inzwischen sogar die Sekretärinnen noch Nachhilfestunden in Englisch nehmen müssen, damit auch ja kein ausländischer Student in die Verlegenheit kommt, Deutsch lernen zu müssen, dann ist das schon etwas eigenartig. Schlimmer noch: es wird das Gegenteil von dem bewirken, was man eigentlich wollte.  Denn nach Beendigung ihres Studiums gehen alle.  Das nennt sich neudeutsch, da wir schon mal dabei sind, „Braindrain“. Ob die Strategen, die verlangen, dass sogar deutsche Barocklyrik gerade auf Englisch besprochen wird, das vielleicht nicht richtig zu Ende gedacht haben?

242    Diese Senfkornausgabe ist winzig. Sie ist nach einem neutestamentlichen Gleichnis benannt: denn so klein wie der Same des Senfkorns auch sein mag, so steckt in ihm doch eine mächtige Pflanze. Der schöne Gedanke lässt sich auch auf vieles andere übertragen: auf die „Kleinigkeiten“,  die jeder von uns tun kann. Wer kann heute schon absehen, was daraus nicht wird?  
 
243     Julia Cameron gehört, glauben Sie mir, zu den weltweit besten Autoren, die über Kreativität schreiben. Ich kann ihre Bücher gar nicht genug loben. Sie sind alle beim Droemer-Knaur Verlag erschienen, bzw. in dessen Imprint Irisiana.  Julia Cameron´s  spiritueller Ansatz wirkt zwar leicht esoterisch, ist es aber nicht, wie Sie bald feststellen werden. Wenn man wirklich das macht, was sie vorschlägt, ist man in zwei Wochen der Mensch, der man eigentlich wäre, hätte der Mainstream uns keine anderen Lebensziele suggeriert.

244      Das hat übrigens nichts mit dem mainstreamigen „lebenslangen“ Lernen zu tun, dieser ungeschickten Übersetzung von lifelong learning, die das, was sie meint, ebenso attraktiv erscheinen lässt wie lebenslangen Knast. Der Unselige, dem dieser schlampig übersetzte Begriff zu verdanken ist, möge in der Vorhölle der Nasen- und Dünnbrettbohrer schmoren! Die Wendung ist jetzt nämlich nicht mehr aus unserer Sprache herauszukriegen, denn solch verkappte Anglizismen sind schlimmer als Rotweinflecken. Ein Übersetzer, der seine Sprachen liebt, kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Es war garantiert jemand, der glaubt,  ganz toll Englisch zu können.
In der Sprachwissenschaft bezeichnet man ähnlich klingende Wörter zweier Sprachen, die aber völlig anderes bedeuten, als Falsche Freunde oder False friends respec. Faux amis - in Fachkreisen sind sie sehr gefürchtet. Wenn man´s recht überlegt, sind die falschen Freunde, denen wir im richtigen Leben vertrauen, aber weitaus gefährlicher: der Mainstream ist voller false friends, die so tun, als meinten sie es gut mit uns.
     
245   Das ist auch so ein Wort, Himmelherrgott! Wir sind ja jetzt alle Dienstleister. Früher hieß das Dienstbote  und noch früher Sklave. Selbständig denkende, kreative oder gar unternehmerische Menschen passen ihm gar nicht. Weswegen man allen Kleinunternehmern ( die ja auch mal größer werden könnten) erst mal den Geldhahn zugedreht hat. Doch lassen Sie sich davon nicht entmutigen!
Die Redensart jemanden zur Minna machen kommt übrigens genau aus diesem Kontext, denn einst gefiel es der bürgerlichen Herrschaft, ihre Dienstboten, die öfter mal wechselten, stets als Minna zu titulieren, damit man sich den neuen  Namen nicht merken musste. Genau dieses menschenverachtende Verhalten legt die Bewusstseinsindustrie heute auch an den Tag: wir werden alle zur Minna gemacht. Kurz: wir sind austauschbar. Aber wenn man einmal dahintergekommen ist,  kann man dagegen angehen und seiner Herrschaft auch schon mal in die Suppe spucken: so wie es die „Guten Geister“ in Kathryn Stockett´s gleichnamigen Roman machen. Die haben allerdings noch eine bessere Idee. Hah!

246    Manchmal muss man das ein wenig üben,  aber es geht: wenn Sie ein sehr gescheites Buch mit dem sehr britischen Titel Übers Wetter können Sie noch reden, wenn Sie tot sind von Olivia Fane (München: Droemer 2014) mitbestellen, dann haben Sie gleich Dutzende von Themen parat, über die andere auch  nachdenken. Das ahnt man oftmals gar nicht - klar, denn der Mainstream vermittelt Vorurteile. Das gehört geradezu zu seinen Spezialitäten!   

247    Charles Cunningham Boycott (1832-1897) war ein sehr ungemütlicher Mensch. Die englische Verwalterseele glaubte, ihre irischen Untergebenen  terrorisieren zu können. Doch dann musste er erfahren, was eine intakte Gemeinschaft zu bewirken imstande ist. Boycott, den man allenthalben schnitt, blieb keine andere Wahl, als nach Hause zu fahren.
 
248    ..der uns ja immer zum Denken bringt. Der Tatort ist nämlich nicht einfach irgendein Krimi. Er ist -jedenfalls meistens- so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Er verpackt seine Gesellschaftskritik zwar in spannende Handlung, jubelt einem aber  ganz nebenher die eine oder andere Erkenntnis unter, die inzwischen das Wort zum Sonntag ersetzt. So ist mir aus einem Wiener Tatort ein besonders bemerkenswerter Satz erinnerlich. Ein korrupter und überdies krimineller Lobbyist verhöhnt damit nach einem Freispruch vor dem Gerichtsgebäude die Polizei:  „Wir haben das Geld,“ sagt er, bevor in seine Limousine steigt „wir haben die Beziehungen und wir scheißen uns nichts. Ihr habt kein Geld“, fügt er hinzu,“ und nicht die richtigen Freunde - und ihr haltet euch an die Regeln.“ Dann fährt er weg. Der Film endet Sekunden später mit einer Überraschung - doch die sei hier nicht verraten für den Fall, dass Sie mal eine Wiederholung anschauen.  Ich hab den Satz an meine Pinnwand gehängt: wir halten uns an das Regeln, weswegen das Böse scheinbar triumphiert. Und doch können wir genau dadurch, dass wir uns selbst und dem Prinzip Anständigkeit treu bleiben, die Sache in den Griff kriegen. Es dauert nur ein bisschen länger. Gottes Mühlen mahlen bekanntlich langsam. Aber sie mahlen, pflegte meine Großmutter zu sagen.

249    Wunderbar ist auch das auf Seite 188 erwähnte Goethe-Zitat. Damit haben wir schon die fabelhaftesten Sachen erlebt.
 
250    Warum eigentlich? Bezahlen wir sie nicht dafür, dass sie wenigstens im Plenarraum sitzen?  Von mir aus können sie ja auf ihren Smartphones rumspielen und Kaugummi kauen wie die Pennäler, aber sollten sie nicht wenigstens da sein?  Oder kann der Souverän das nicht verlangen? Sind die alle beim Frisör oder in der Pediküre, wenn da der Haushalt und anderes Unwichtige diskutiert wird, wovon vielleicht unsere Zukunft abhängt?  Ich will damit um Himmels Willens nichts weiter sagen. Ich stelle das nur mal so in den (leeren Sitzungs-) Raum. Vielleicht sind sie aber auch einfach nur deprimiert und innerlich emigriert, weil man “ohnehin nichts machen kann.“ Die Parole hat der Mainstream ja schon vor längerem ausgegeben. Vielleicht würden wir, hätten wir einen Sitz im Bundestag, dann auch lieber Kaffee trinken gehen, weil eh schon alles zu spät ist. Will sagen: wir müssten auch unseren Volksvertretern wieder Mut zur Veränderung machen, zum „Paradigmenwechsel“ und zum „Wandel“,  mit dem sie es ja zumindest theoretisch  immer mächtig haben.  Dabei sind sie auf  Wandel in etwa so scharf wie auf eine komplizierte Zahnwurzelbehandlung. Im Grunde wollen sie, dass alles so bleibt, wie es ist. Wirklich auf Innovation aus ist keiner. Was menschlich ist - wer will es ihnen verübeln?       

251    In Band zwei dieses Handbuchs geht es unter anderem um kreative Denkstile und auch ein paar Tricks, mit denen Sie die Oberbedenkenträger  erst einmal auf die Reservebank setzen können.  Die Spielverderber, die wahrscheinlich schon als Kinder so drauf waren, stören uns nämlich bloß beim Ideensammeln. Mein bester Trick ist (s.o.):  ich lasse alle in  den ersten „Spielrunden“ ihre Ideen auf gelbem Papier skizzieren bzw. auf hoffnungsvollem Grün oder luftigem Himmelblau.  Erst zum Schluss dürfen die Bescheidwisser  ihre auf rotem Papier notierten Einwände bringen. Diese einfache, aber ziemlich geniale Technik geht auf Edward de Bono zurück ( The Six Thinking Hats), ich habe sie nur an etwas weniger angelsächsische Denkstile angepasst.
       
252   „Wie schön leucht´ uns der Morgenstern“ heißt es nicht nur bei Philipp Nicolai, der 1597 Text und Melodie dieses Chorals schuf. Der Morgenstern hat immer und zu allen Zeiten die Phantasie der Menschen guten Willens beflügelt. Heute weiß man, dass der Morgen- und der Abendstern tatsächlich ein und dasselbe Gestirn bezeichnen. Der hellste Stern am Himmel diente also jahrtausendlang nicht nur der nächtlichen  Orientierung, er kündet schon genau so lang das Ende der Nacht und ist eben deswegen zu einem Symbol für Christus geworden. Das, finde ich, ist ein so schöner Gedanke, dass darüber einer  zum Christen werden könnte, der noch keiner ist. Astronomen wissen überdies, dass Morgen - und Abendstern die Pseudonyme der schönen Venus sind. Alles Zufall? Schon möglich. Und doch haben mich diese Überlegungen dazu veranlasst, einen Seminarraum, der zu meiner Buchhandlung hier in Lindau gehört, mit einem Sternenhimmel zu schmücken. Auf dass man auch bei Nebel, der ja hier am See nicht gerade selten ist, den „bestirnten Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns“ nicht aus den Augen verliert, mit dem uns Immanuel Kant einst beschenkte.  Und dass wir nicht vergessen: auch die Erde ist ein Stern.   

253  Ulrich Frewel (vergleiche auch Fußnote 23) ist übrigens - wie wir alle -  des öfteren  in unserem Kaffeehaus hier in Lindau anzutreffen: er ist ein sehr großer, schlanker, stets in Cordhosen und Rollkragenpullover gewandeter Herr, dem man vielleicht auf Anfang siebzig schätzt. Dabei ist er schon seit ein paar Jahren jenseits der achtzig unterwegs. Ulrich Frewel werden Sie zumeist lesend antreffen, wenn er nicht gerade in ein intensives Gespräch mit einem unserer Gäste vertieft ist, mit Max Wolter zum Beispiel, der hier in Lindau lebt. Er ist - ebenso wie Ulrich Frewel - Potsdamer und gehört mit seinen siebenundachtzig Jahren zur selben Generation. Wenn die beiden los berlinern, gibt´s bald kein Halten mehr.  Max, alias Maxe, ist der fröhlichste (und jüngste) Mensch, den man sich nur denken kann: er hat aus Glaubensgründen fast zehn Jahre lang in einem Staatsgefängnis der DDR gesessen, worüber er die fabelhaftesten Geschichten zu erzählen weiß - man muss ihn einfach selber erleben. Von Maxe Wolter lässt sich -unter vielem anderen - lernen, wie man sich auch in menschenverachtenden Systemen noch selber treu bleiben kann.  Sogar im Knast, behauptet Maxe Wolter, ist´s durchaus möglich, den Mächtigen immer noch ein wenig Sand ins Getriebe zu streuen. Er ist ohnehin ein großer Befürworter der „Ein-bissel-was-geht-immer-Technik“.   
Der Siebenundachtzigjährige ist übrigens stets von deutlich jüngeren Damen umgeben, die er mit seinen Texten aufmuntert: zurzeit berichtet er uns von einem Brief, den er (angeblich) von seiner Rentenversicherung bekommen haben will, der Berliner LVA.  Darin wird ihm vorgerechnet, dass er nunmehr  seit über zwanzig Jahren ihre Leistungen beansprucht habe, weswegen man ihm hiermit vorschlage, jetzt öfters mal bei Rot über die Straße zu gehen. Zum Beweis dieser Behauptung zeigt er einen freilich aufs schönste gefälschten Brief der LVA auch wirklich vor. Er habe damit sogar schon einmal einen Polizisten fast dreißig Sekunden lang verwirren können, den überaus netten Johannes Mai nämlich, der auch öfters bei uns zu Gast ist und ausgiebig mit meinen hübschen Kolleginnen flirtet.   
Ich hoffe, man legt es mir nicht als Unbescheidenheit aus, wenn ich an dieser Stelle noch vermelden möchte, dass unser Augustin als eines der besten Cafés am ganzen See gilt. Auch die Merian-Redaktion legte ihn unlängst ihren Lesern ausdrücklich ans Herz, was uns schon sehr gefreut hat. Ich erwähne das nämlich nicht ganz ohne Grund: solche Cafés sollte es  mehr geben - und ich stehe Buchhändlern, die Ähnliches im Sinn haben, auch gern mit Rat und Tat zur Seite.
Das meine ich ganz ernst: kommen Sie einfach einmal hierher. Sie können auch gern in unserem Club der Idealisten - kostenfrei natürlich - übernachten,  tagsüber nach Lust und Laune die Insel nebst der reichlich vorhandenen Botanik  erkunden oder auch  in den Bücherwelten des Augustin abtauchen.
Ich zeige Ihnen dann auch gern ein paar Bilder, die belegen, wie das Café einst aussah.  Als ich etwas mehr als fünf Jahren diese völlig heruntergekommene Immobilie  kaufte, dachte alles, ich sei völlig übergeschnappt. Und tatsächlich ist das eine Unterstellung, mit der Idealisten manchmal leben müssen. Deswegen sollte man sich frühzeitig angewöhnen, auf derlei Kommentare  zu pfeifen und ganz einfach fröhlich weiterzumachen wie gehabt.  
Wenn ich mir heute die Fotos anschaue, die die ehemalige Kneipe vor der Renovierung zeigen, frage ich mich zwar selbst, wieso ich mir das damals angetan habe: die Räume waren  in einem so desolaten Zustand, dass die Bauträger sie schon in Kellerabteile für die Hausbewohner umbauen wollten, was ich gerade noch verhindern konnte.
So kam ich für (vergleichsweise) kleines Geld in den Besitz einer einst verruchten Spelunke. Sie schien zwar alles andere als ideal für ein Buchcafé zu sein, aber sie war immerhin  hinreichend groß - und sie verfügte, da sie zu den ältesten Gastronomien der Stadt gehört, über eine großzügige Lizenz - und die war sozusagen schon mal die halbe Miete.    
Unser Malermeister Robert Batz, mit dem ich seit vielen Jahren zusammenarbeite, bewirkte das erste Wunder: er sanierte alle Putze und tünchte schließlich  die ganz in Puffrot gehaltenen Räume hellblau um,  nachdem wir  das düstre Balkenwerk in einem feinem Schwedischrot gestrichen hatten.  
Meine Kollegin Angela Roeder, die, wie Sie bereits wissen, der geschickteste Mensch der Welt ist, baute sodann die offene weiße Küche, die dort hinkam, wo einst der Tresen stand: diese Küche war das zweite Wunder. Sie verwandelte die Kneipe in so etwas wie eine Privatwohnung mit einem leicht nordischen, bullerbühaften Flair. Die vielen Bilder an den Wänden (schöne Buchplakate zumeist) taten ein übriges, die gemütlichen Lampen und die bequemen Korbsessel mit all den lustigen Kissen ebenso.
Heute werden hier, vor den Augen der Gäste also, den ganzen Tag über Kuchen gebacken, die eigentlich selten kalt werden. Wir bereiten unsere berühmten Obst- und Quarkkuchen nach ganz einfachen, schnickschnackfreien Rezepten zu und servieren sie meist noch lauwarm - mit Bio-Sahne und Vanilleeis zum Beispiel, mit Butter und Mohn oder Kirschsauce und anderen guten Dingen, die die grauen Zellen auf Trab bringen.  
Heute sitzen unsere Gäste sitzen an Tischen, die man mit ein, zwei Handgriffen in große, gemeinsame Tafeln verwandeln kann und ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass sich alle wohlfühlen und die familiäre Atmosphäre des Cafés schätzen.  Man kann nach Lust und Laune lesen oder Briefe schreiben, man kann Schach spielen oder Mensch-Ärgere-Dich-nicht, Trivial pursuit und Memory - es ist alles da.   Man kann aber auch ganz einfach nur die Menschen treffen, die ebenso wie man selbst zur angeblich bedrohten Art der Idealisten gehören, zu den Anständigen nämlich, die die einfachen Dinge schätzen und die intuitiv alles allzu Raffinierte ablehnen. Recht haben sie: denn Raffinement ist oft ein Hinweis darauf, dass ein paar ganz schlaue Rechenkünstler am Werk waren, die nur darauf aus sind, anderen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Bei uns ist das nicht so.
Dazu passen auch die Bücher, die wir anbieten: es geht hier ausschließlich um  philosophische, politische und ökologische Themen. Hier sind die fünfhundert wichtigsten Titel für all die Leser zu finden, die - im doppelten Wortsinne weiter denken, weswegen wir Harald Welzers obenerwähntes Buch Weiter denken auch in Stapeln auf einem Büchertisch vor der Tür stehen haben, ebenso wie Sandels Gerechtigkeit, Bodes TTIP,  Felbers Gemeinwohlökonomie und andere Bücher, über die ich sofort mit meinem Nachbarn ins Gespräch komme: diese (ungewöhnliche) Auswahl veranlasst die Guten, die Nachdenklicheren,  bei uns hereinzuschauen und uns überhaupt erst zu entdecken.    
Heute lobt uns jeder für das „Konzept“,  obwohl ich nie eins hatte: eigentlich habe ich immer ganz einfach, ganz intuitiv nur das getan, was ich richtig fand  und siehe da - alle schienen nur darauf gewartet zu haben!
Wir haben inzwischen so viel zu tun, dass es kaum noch zu schaffen ist - und wir alle reißen uns täglich je ein Bein aus, um das Qualitätsniveau zu halten. Unlängst brachte uns ein Kollege in wohlmeinender Absicht ein Päckchen Kaiserschmarrn, den man bloß anzurühren braucht. So ein Schmarren kommt mir natürlich nicht ins Haus, weil wir wirklich alles selber machen, vom Pesto bis zum Apfelstrudel, vom Chili sin carne bis zu den Ofenrösti, derentwegen inzwischen die Schweizer Gäste angepilgert kommen, weil derlei Genüsse in ihrem eigenen gastronomischen Betrieben inzwischen unbezahlbar geworden sind. Sie schätzen auch sehr unseren St.Galler Klosterkuchen, eine rezente Tarte aus Zwiebeln und viel Bergkäse, die einen auf Stunden satt und glücklich macht: alles, was wir bieten, wird ohne irgendwelche Zusätze bereitet, ohne Glutamat natürlich,  ohne Konservierungsstoffe, ohne irgendwelche künstlichen Aromen. Das ist für uns Ehrensache: unseren Käse importieren wir aus dem (Vorarlberger) Ländle - er wird in Leintücher eingeschlagen und hat in seinem ganzen Leben noch kein Plastik gesehen. Und so schmeckt er auch!   
Wir verraten übrigens gern unsere vegetarischen bzw. veganen Rezepte  und wir geben  das Konzept als solches weiter, das, wie erwähnt, zunächst eigentlich gar nicht da war. Die besten Dinge entstehen sowieso ohne das, was die Banker großspurig „Business-Plan“ nennen.
Allzu viel Geplane, scheint mir, schadet nur. Pläne sind natürlich wichtig für Leute, die Häuser bauen, Tunnel, Brücken oder Flugzeuge - aber alles andere leidet nur unter allzu viel Struktur. Mit Plänen setzt man seinen Möglichkeiten auch schon mal Grenzen, die gar nicht nötig gewesen wären. Wie will man mit realistischen Plänen Unmögliches erreichen? Denn nur so, darüber sind sich doch alle einig, entsteht das Mögliche! Manche Dinge muss man einfach wagen.
Und für den Fall, dass sie fehlschlagen sollten, sieht man einfach zu, dass man nicht mit Bankschulden rausgeht.  Für den größten Teil dessen, was Idealisten sich erträumen, braucht man ohnehin kein Geld oder kaum eines. Ein Idealist ist nämlich einer, den es geradezu reizt, eine Sache gegen jede Menge Widerstände und am besten auch weitgehend ohne Geld  durchzuziehen. Mit Geld kann ja jeder.
Ohne ist das Kunststück! Und außerdem ist es viel schöner, wenn man es dann geschafft hat.
Lassen Sie sich also nie von dem Gedanken entmutigen, dass Ihnen für die Umsetzung Ihrer Träume das Geld fehlt!  Dann fängt man eben etwas kleiner an und wächst langsam in die Sache hinein. Das hat außerdem den Vorteil, dass man  alles auch viel schöner im Griff hat und dabei eine Expertise entwickelt, die anderen fehlt.
Doch das sei hier nur so nebenbei angebracht. Die Zauderer und die Bedenkenträger jedenfalls sind nur sehr selten kreativ, eben weil sie den  ganzen lieben langen Tag über mit ihren Kennzahlen beschäftigt sind, was sich einem doch irgendwann doch auf die Seele schlagen muss.  Manche Dinge sind wie Malen oder wie Tanzen: das lässt sich auch nicht planen. Man tanzt, indem man ganz einfach anfängt. Es gibt eine entzückende Szene in dem überhaupt hinreißenden Buch Das Rosie-Project des Australiers Graeme Simsion. Das Buch berichtet vom komplizierten Liebeswerben  eines Wissenschaftlers in mittleren Jahren, der zwar wunderbar gescheit ist, dessen soziale Kompetenz aber bei unter Null liegt. Er ist ein Controllfreak und ein Besserwisser ersten Ranges. Auch leidet er unter einer milden Form von Asperger-Syndrom, das für mindestens ein Dutzend seiner Ticks verantwortlich ist. Kurz: eigentlich ist er unerträglich, aber ihm fehlt eben eine Frau und die versucht er unter Verwendung wissenschaftlicher Ausschlussverfahren  online kennenzulernen. Eine davon, die gern Tango tanzt, versucht er zu beeindrucken, indem er ihr weismacht, dass Tanzen zufälligerweise auch zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Der gewitzte Leser ahnt natürlich, dass das nur schiefgehen kann, denn zumindest in romantischen Komödien haben Lügen immer ganz kurze Beine.  Und richtig: mithilfe einer Anleitung aus dem Internet übt der Ich-Erzähler denn auch Tango, was dann prompt in die Hose geht,  weil unser Held nämlich ohne Partner(in) geübt hat und - ohne Musik. Das ist, wie überhaupt das ganze Buch - zum Brüllen komisch und natürlich gibt´s auch ein Happy-End mit der im Titel genannten Rosie (allerdings wird´s  nicht die Tangotänzerin, sondern eine andere, viel nettere, die das verirrte Schaf wieder auf die Weide führt).       
Vielleicht ist das Buch sehr zu Recht deswegen zum Bestseller geworden, weil sein komischer Held trotz all seiner Inselbegabungen nicht lebenstüchtig ist. Im wirklichen Leben gibt es diesen Dominik-K.-Typus, wie wir gesehen haben, ja auch, doch lassen wir uns von dem Gedanken nur ja nicht länger herunterziehen!
 Tun wir einfach, was wir für richtig halten, pfeifen wir auf das, was andere uns vorrechnen, vertrauen wir ein wenig dem Leben und versuchen wir ganz nebenbei die auf Abwege Geratenen dazu zu bekehren, dasselbe zu tun - das kann doch nicht so schwer sein.
Für den Anfang reicht es, wenn wir die Bedenken, die die Rechenkünstler stets anmelden, ganz einfach in den Wind schlagen. Ich höre noch die Einwände gegen das Buchcafé, mit denen man mir stets
kam, noch bevor ich überhaupt zu Ende gesprochen hatte -  da sähen die Bücher ja bald entsprechend aus, überall sei mit Kaffeeflecken zu rechnen und alles würde stundenlang abhängen und bloß lesen statt zu konsumieren. So etwas könne sich nicht rechnen. Da sei ich binnen kurzem pleite.
Nichts davon hat sich bewahrheitet, also jedenfalls noch nicht - während ich dies schreibe klopfe ich sicherheitshalber natürlich dreimal, toi toi toi, auf meinen Hartholzkopf.  Doch ganz ehrlich:   Ich habe in drei Jahren kein einziges havariertes Buch im Café gehabt, weil alle Gäste  sehr pfleglich damit umgehen,  extravorsichtig, wie mir scheint. Da können Sie jede meiner Kolleginnen/ jeden meiner Kollegen fragen - sie werden es Ihnen gern bestätigen.
Das Café ist, glaube ich, denn auch der eigentliche Grund, weswegen ich mich getraut habe, dieses Buch zu schreiben: hier ist mir erst einmal klar geworden, wie viele anständige Menschen es gibt, die vielleicht nur unbewusst nach genau dieser Art von Treffpunkt suchen. Hunderte von Gesprächen haben mir das bestätigt und wer´s nicht glauben mag, lese einfach ein paar Seiten in einem unserer vielen Gästebücher. Wir selbst blättern hin und wieder darin, wenn wir ein wenig Aufmunterung brauchen: diese Bücher beweisen uns, dass wir etwas gesellschaftlich Relevantes tun. Und dass es eine gute Idee wäre, wenn unsere Buchhändlerkollegen auch solche Cafés aufmachten.
 Das Risiko ist nicht allzu groß.  Unser Augustin jedenfalls vibriert geradezu, sogar im Winter und bei Nebel, da es auf der Insel sonst totenstill ist.  Seit dem Tag, da wir das Café eröffnet haben, am Ostersamstag 2013, läuft es und läuft es und läuft es.
Obwohl die Lage eigentlich nicht sonderlich gut ist, wie man meinen sollte.  Aber der Augustin hat etwas, was ich selbst nicht ganz verstehe und worüber ich öfter nachdenke, ohne je zu einem greifbaren Resultat zu kommen. Vielleicht macht es die Mischung: da sind zum ersten meine zauberhaften Kolleginnen, alles Buchhändlerinnen übrigens, die wirkliche Gastgeberinnen sind und die keine Mühe scheuen, alle zu verwöhnen. Dann ist da zum zweiten natürlich unser ziemlich genialer Kaffee, den wir für einen Euro oder auch einsfünfzig anbieten, weil wir als Buchhändler an kleinere Spannen gewöhnt sind und Tausenderkalkulationen irgendwie nicht anständig finden. Dann sind da natürlich die obenerwähnten hausgemachten Kuchen, ebenso wie die vegetarischen, aus ehrlichen Zutaten ohne jeden chemischen Zusatz bereiteten kleinen Gerichte, die wir zu gerechten Preisen anbieten.  
Dieses Kaffeehaus, glauben Sie mir, ist ein Wunder und ich betrachte es wie ein mir unverdient zugefallenes Geschenk Gottes. Uns allen und ich glaube auch all unseren  Gästen tut diese kleine Insel im Meer der Zeit so unendlich gut, dass wir uns auch durch die viele damit verbundene Arbeit nicht überlastet fühlen. Keine meiner Kolleginnen wird je krank und auch wenn wir hin und wieder mal in Ferien fahren, sind wir nach einer Woche oder auch zweien glücklich, wenn das anstrengende Relaxen vorüber ist und wir wieder an unseren geliebten Thermomix dürfen.  

Der Augustin verdankt seinen Namen übrigens nicht nur dem Lieben Augustin, einen zauberhaften kleinen Roman von Horst-Wolfram Geißler, der hier in Lindau und im schönen Wasserburg am Bodensee spielt. Er wurde drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlicht, was zu erwähnen ich nicht unwichtig finde, denn es mag wundernehmen, dass so kurze Zeit nach dem bis dato grausamsten Krieg aller Zeiten ein literarisches Werk von so umfassender Liebe zum Leben und zu allen Geschöpfen durchweht sein kann. Man kann das Büchlein, das auch prima in eine Handtasche passt, alle Jahre mindestens einmal lesen kann, ohne je der Geschichte überdrüssig zu werden. Der Ort eines guten Teils der Handlung, das ehemalige Damenstift zu Lindau, befindet sich übrigens direkt gegenüber des jetzigen Augustin. (Heute ist darin das Amtsgericht untergebracht ).
Unser Augustin heißt aber auch so, weil ich es damals, Ostern 2013, auf den Segen des Heiligen Augustin angelegt habe, den ich sehr schätze, schon weil er so wunderbare Sätze gesagt haben soll wie: „Wenn Du nicht Teil des Problems sein willst, sei Teil der Lösung“,  was ich verblüffend modern finde und eigentlich mehr Marx, Engels oder Norbert Blüm zugetraut hätte, aber das Zitat geht wirklich auf Augustinus von Hippo zurück.  
Ein ganz ähnlicher Satz findet sich auch auf dem im Buch erwähnten Bauzaun, der einst die Villa Leuchtenberg umgab und der inzwischen im Garten des Augustin zu besichtigen ist: Hermann Kreitmeir, Stadtrat zu Lindau und kreativer Feuerkopf allerersten Ranges, hat das kleine Kunstwerk vor ein paar Jahren  gerettet und uns zur Eröffnung des Cafés verehrt. Seither ist in unserem schönen stillen Rosengarten der eine oder andere beflügelnde Satz nachzulesen „Materialismus“ behauptet zum Beispiel einer davon, der nur bei Augustinus abgekuckt sein kann - „Materialismus war Teil des Problems, Idealismus aber ist Teil der Lösung.“